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Am Tag nach dem Putschversuch: Das Polizei-Hauptquartier in Ankara

Das bittere Ende einer Zweckehe

AKP-Regierung und Gülen arbeiteten lange als Verbündete – oben angelangt wollten sie nicht teilen. Wie es zum Putschversuch im Juli 2016 kam.

AHMET ŞIK, 2017-01-25

Seit rund 50 Jahren organisiert sich die Gülen-Bewegung in den staatlichen Strukturen der Türkei. Den Höhepunkt ihrer Macht erreichte sie unter der AKP-Regierung in den Jahren 2007 bis 2012. Als kein Gegner mehr zu Bekämpfen übrig war, zerstritten sich die „Partner“ über die Verteilung der Beute und der staatlichen Macht.

Ihre „Feindschaft“ begann mit den Korruptionsermittlungen 2013 (die von Gülenisten innerhalb des Justizapparats in die Wege geleitet wurden, Anm.d.Red) und brachte die Türkei letztlich zur Nacht des 15. Juli 2016, zu der viele Menschen nach wie vor Fragezeichen im Kopf haben.

Trotz umfangreicher Ermittlungen wegen Korruption und illegaler Waffenlieferung in Geheimdienstkonvois nach Syrien gegen Erdoğan und andere AKP-Funktionäre, ging die AKP aus den kurz darauf folgenden Regionalwahlen als Siegerin hervor und wenige Monate später wurde Erdoğan sogar Staatspräsident.

Der Anfang vom Ende

Dies bedeutete für die Gülen-Bewegung den Anfang vom Ende. Neben umfangreichen Entlassungen in Justiz und Polizei wurden zahlreiche Konzerne und der Bewegung nahestehende Medienorgane durch Zwangsverwaltungen übernommen, um der Bewegung die finanziellen Ressourcen zu entziehen.

Die Vereitelung des Putschversuchs vom 15. Juli 2016, bei dem 248 Zivilisten beim Widerstand gegen Putschisten ums Leben kamen, verhinderte den Beginn einer weit blutigeren Phase. Der Umsturzversuch, den ein Teil der Opposition nach wie vor für eine Inszenierung von Erdoğan hält, wirft heute noch Fragen auf.

Die Verhaftungswelle gegen Funktionäre der Gülen-Bewegung, die seit dem Putsch als „Fethullah-Gülen-Terrororganisation“ (FETO) bezeichnet wird, hat sich auf alle Gegner der AKP-Regierung ausgedehnt. Rund 40.000 Personen wurden wegen „Putschverdachts“ verhaftet.

Während jeder mit widersprüchlichen Anschuldigungen konfrontiert und der „FETO-Mitgliedschaft“ bezichtigt wird, ist die AKP-Regierung, die einst die Gülen-Bewegung zum Teilhaber ihrer Macht und sich damit in ihrem Jargon „des Terrors mitschuldig“ gemacht hat, von aller Kritik ausgenommen. Behauptungen ohne Dementi und unbeantwortete Fragen nähren den Verdacht, der Coup könnte inszeniert worden sein, um die Macht der AKP oder Erdoğans zu stärken.

Hatte man das nicht gemerkt?

Seit den 1990er Jahren wurden zahlreiche Artikel, Bücher und Berichte über die Organisierung der Gülenisten innerhalb des Staats, vor allem in Armee, Polizei, Justiz und der aus dem Geheimdienst MIT bestehenden Sicherheitsverwaltung veröffentlicht.

Bedenken wir, dass diese Warnungen nicht beachtet wurden, stellt sich die Frage: Hat man diese Entwicklung nicht bemerkt, oder wollte man nicht, dass sie bemerkt wird?

Wenn die Gülen-Bewegung tatsächlich so gut in Armee und Verwaltung organisiert war, hatte sie es da überhaupt noch nötig, einen Putsch durchzuführen? Und noch viel wichtiger: Warum konnte der Putschversuch, der 248 Menschen das Leben kostete, nicht verhindert werden, obwohl die Bewegung zuletzt mit den Korruptionsermittlungen ihre Feindseligkeit gegen die AKP und Erdoğan offenbart hatte?

Wie die Bewegung sich der Armee bemächtigte

In einer Anklageschrift gegen die Gülen-Bewegung, die wenige Tage vor dem Putschversuch in Ankara erstellt wurde, findet sich folgende Passage: „Die türkischen Streitkräfte haben seit 2003 niemanden entlassen, von dem sie wussten, dass er Gülenist ist. Seither befindet sich das Militär in Händen der Organisation (Gülen-Bewegung, Anm.d.Red.). Ergenekon und andere Militärprozesse wurden geführt, damit die Organisation ihre Vormacht über die Streitkräfte durchsetzt.“

Staatsanwalt Okan Bato hatte eine Untersuchungsaktion gegen Anhänger der Gülen-Bewegung innerhalb der Streitkräfte angeordnet. Als die Putschisten bemerkten, dass sie kurz davor sind aufzufliegen, zogen sie ihre Umsturzaktion, die ursprünglich am 16. Juli 2016 um 03.00 Uhr am Morgen stattfinden sollte, einen Tag vor.

Einem unvollständigen Untersuchungsbericht zufolge begannen die Vorarbeiten für den Putsch bereits im Januar 2016. In den Mittagsstunden des 15. Juli 2016, als im Generalstab die Vorbereitungen liefen, wurde auf Hinweis eines unbekannten Offiziers namens H.A. ein Flugverbot für sämtliche Militärhubschrauber- und Flugzeuge im Luftraum der Türkei verhängt.

Für alle weiteren, sich noch in der Luft befindenden Maschinen wurde der Befehl zur Rückkehr zu ihren Stützpunkten erteilt. Der Putschversuch begann um 21.00 Uhr Ortszeit, zeitgleich betrat Generalmajor Mehmet Dişli, Bruder des AKP-Vize-Vorsitzenden Şaban Dişli, das Büro des Generalstabschefs Akar, um ihn zum Umsturz zu überreden. Als er scheiterte, waren bald darauf Schüsse im Generalstabsquartier zu hören, Militärjets flogen im Tiefflug über Ankara und in Istanbul wurde die Bosporusbrücke von Panzereinheiten gesperrt.

Das große Gottesgeschenk

Als in den sozialen Medien von Explosionen und Schüssen in Ankara und Istanbul berichtet wurde, sprach als erster Funktionsträger Premierminister Binali Yıldırım von einem Putschversuch. Um 00:24 Uhr erschien Erdoğan im Fernsehen. Er rief die Bürger dazu auf, die städtischen Plätze und Flughäfen zu besetzen und sich dem Putsch entgegenzustellen.

Erdoğans Fernsehaufruf fand Widerhall, viele Bürger fuhren zum Atatürk-Flughafen in Istanbul. Als Erdoğans Flugzeug dort um 03.18 Uhr landete, waren Hubschrauber mit Sondereinsatzkommandos, die angeblich ein Attentat auf ihn vorhatten, im Anflug auf Marmaris, wo Erdoğan sich zuvor aufgehalten hatte.

In seiner Fernsehrede bezeichnete Erdoğan mehrfach die Gülen-Bewegung als Drahtzieher hinter dem Coup. Er sagte: „Wie Sie wissen, gab es heute Nachmittag bedauerlicherweise eine Dynamik in unseren bewaffneten Streitkräften.“

Der Satz, der andeutet, dass die Putschpläne der Regierung bereits bekannt waren, rutschte ihm möglicherweise versehentlich heraus. Damit nicht genug, fügte er diesem noch hinzu: „Diese Operation ist ein großes Gottesgeschenk für uns.“

Übersetzt aus dem Türkischen von Sabine Adatepe.

* Dieser Text ist ein übersetzter Auszug aus einer Serie zum Putschversuch, die 2016 in der Tageszeitung Cumhuriyet erschienen ist.

AHMET ŞIK, 2017-01-25
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