Ihr Engagement für Frieden hat Necmiye Alpay ihre akademische Karriere gekostet, Freiheitsentzug nimmt sie selbst mit 70 Jahren in Kauf. Ein Porträt.
Kalt ist es in Istanbul, es regnet seit Tagen. Das Jahr 2016, in dem die Türkei und die ganze Region schwierige Zeiten durchlebte, geht mit einer seltenen positiven Überraschung zu Ende. Am 29. Dezember wurden nach vier Monaten Untersuchungshaft die Sprachwissenschaftlerin und Autorin Necmiye Alpay sowie die Schriftstellerin Aslı Erdoğan und der Journalist Zana Bilir Kaya, alle aufgrund der „Anti-Terror-Gesetze“ inhaftiert, auf freien Fuß gesetzt. Alpay war unter anderem wegen „Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation“ angeklagt.
Der beharrliche Kampf, die Kampagnen für Meinungsfreiheit, die trotz Schnee und Kälte fortgesetzten „Freiheitswachen“ für die Inhaftierten hatten etwas genützt. Necmiye Alpay, eine Ikone des Kampfes für Frieden, kam in ihrer sanften Anmut bei der Friedensstiftung, zu deren Gründungsmitgliedern sie gehört, zur Tür herein.
Als wäre es nicht sie gewesen, die vier Monate lang zu Unrecht eingesperrt und angeklagt worden war und womöglich nach einer Weile erneut hinter Gitter gesetzt wird. Der Realität ihres Landes, von dem sie sagt, sie denke nicht daran, es zu verlassen, begegnet sie offensichtlich besonnen und mit starkem Bewusstsein.
Necmiye Alpay ist heute 70 Jahre alt. Geboren im Westen der Türkei, wuchs sie als Offizierstochter in unterschiedlichen Städten der Türkei auf. Viele der politischen Höhen und Tiefen der Türkei erlebte sie mit. „So alt bin ich schon“, sagt sie. Es war nicht ihre erste Hafterfahrung. Nach dem Militärputsch vom 12. September 1980, sie war damals Dozentin an der Fakultät für Politikwissenschaft in Ankara, wurde sie aus politischen Gründen verhaftet und saß drei Jahre im Gefängnis.
Mit der Verhaftung wurde Alpay, auf die der Ausdruck wandelnde Bibliothek zutrifft, aus dem Lehrkörper ausgeschlossen und bekam ihre Stelle später nicht zurück. Um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, fing sie mit dem Übersetzen an. „Sprachwissenschaft und Übersetzen, das geht gut zusammen, so läuft es bis heute. Darüber hinaus habe ich mich für den Frieden, für die kurdische Sache und andere Menschenrechte engagiert“, sagt sie.
Im August 2016 wurde Necmiye Alpay wegen „Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation“, „Propaganda für die Terrororganisation“ und „Betreiben der Zerstörung von Einheit des Staates und Gesamtheit des Landes“ verhaftet. Sie sagt, sie stehe seit Jahren auf der Namensliste des symbolischen Beirats der Zeitung Özgür Gündem.
„Seit Jahren erscheint bei der Özgür Gündem auch mein Name im Impressum. Die verantwortlichen Leiter und Chefredakteure wechseln. Meistens, weil sie ins Gefängnis kamen oder umgebracht wurden. Sogar der Name der Zeitung änderte sich. Warum wir gerade jetzt verhaftet wurden? Der Grund liegt auf der Hand: die neue staatliche Politik in der kurdischen Sache.“
Angesichts der staatlichen Haltung und des von den Kurden geführten bewaffneten Kampfes braucht es Courage, die kurdische Presse oder gar den Kampf der politischen Bewegung der Kurden für ihre Rechte zu unterstützen.
Insbesondere nach dem Abbruch der Friedensverhandlungen braucht man nicht Kurde zu sein, um in der Türkei mit dem Wort „Terror“ in Zusammenhang gebracht und zur Zielscheibe gemacht zu werden. Alpay stellt klar: „Der bewaffnete Kampf war nie eine Form des Kampfes, die ich befürwortet habe.“
Ein Bewusstsein für die kurdische Sache entwickelte Necmiye Alpay, die sich als „Internationalistin“ versteht, durch kurdische revolutionäre Freunde. Mit ihnen hatte sie an der Universität jahrelang Seite an Seite gekämpft.
„Wir verbrachten die sechziger Jahre mit den kurdischen Freunden gemeinsam, '69 fingen sie dann an, eigene Organisation aufzubauen. Das wurde durch den Militärputsch vom 12. März 1971 vereitelt. Später kam das kurdische Streben nach Unabhängigkeit mit der Gründung der PKK erneut auf die Agenda“, sagt sie.
Ihre Solidarität mit der Zeitung Özgür Gündem begründet Alpay mit Prinzipien. „Ich habe nie für Özgür Gündem geschrieben. Dennoch habe ich sie immer unterstützt. 1994 gab es Anschläge auf die Redaktionen der Zeitung, Verkäufer wurden umgebracht. Das war eine Art Zeitenwende für mich und Grund genug, eine Zeitung zu unterstützen. Egal, was in einer Zeitung steht, in meinen Augen ist sie vor allem eine Zeitung.“
2013 wurde in gemeinsamer Anstrengung von der Regierungspartei AKP und der kurdischen politischen Bewegung die Phase der Friedensverhandlungen eingeleitet. Binnen kürzester Frist entstand eine Atmosphäre der Hoffnung darauf, dass der Konflikt mit politischen Mitteln gelöst werden kann. Doch die Hoffnung währte nur kurz, erneut wurde die Türkei zum Brandherd. Viele Menschen im Westen, die während der Friedensphase rege Initiativen zur kurdischen Sache gestartet hatten, verstummten mit dem Ende der Verhandlungen; andere taten aber genau das Gegenteil.
Der neu aufgeflammte bewaffnete Kampf und die Terrororganisation TAK (eine Splittergruppe der PKK, Anm.d.Red.), die Anschläge auch auf Zivilisten verüben und behaupten, dies im Namen der Kurden zu tun, machten eine solidarische Haltung umso schwerer.
Wie nun hat sich all das Geschehen auf Necmiye Alpay ausgewirkt, die viele Jahre hindurch bei der kurdischen Sache ihren Prinzipien treu geblieben war? Mit lauter Stimme, aber nachdenklich leitet sie ihre Antwort mit einem „TAK“ ein. „Das ist eine im wahrsten Sinne des Wortes falsche und unheilvolle Organisation. Meiner Meinung nach hat die kurdische bewaffnete Bewegung in dieser Sache nicht mit der nötigen Radikalität ihre Ablehnung geäußert“, sagt sie und fährt ruhig fort:
„Es gab zwei wesentliche Entwicklungen in der kurdischen bewaffneten Bewegung. Der Guerilla-Kampf hat sich über sich selbst hinaus in einen Krieg in den Städten verwandelt. Das ist schlussendlich das, was auch nach internationalem Recht als Terror bezeichnet wird. Also Bewegungen, die in Kauf nehmen, dass Zivilisten umkommen, und seien es nur drei, vier. Zweitens hat sich der Nationalismus in der kurdischen Bewegung weiter verstärkt. Das sind Entwicklungen, die mich quälen, ja, die mich auf Distanz gehen lassen.“
Am Schluss ihrer Einschätzung versäumt sie nicht festzuhalten: „Die Existenz der kurdischen Kultur, der Kurden, der kurdischen Sprache ist sehr wertvoll. Sie verdienen unendlichen Respekt, und für diese werde ich immer eintreten. Das habe ich mein ganzes Leben getan und werde es auch weiterhin tun.“
Necmiye Alpays Haltung in der kurdischen Sache war dem Staat nicht zum ersten Mal ein Dorn im Auge. Als sie für die Zeitung Radikal ihre Kolumne „Sprachangelegenheiten“ schrieb, ging sie häufig auf Themen wie Muttersprache, kurdische Sprache und Kultur ein. 2005 war sie in Diyarbakır festgenommen worden, als sie dort an einer Schriftstellerversammlung teilnahm. „Damals war mein einziges 'Verbrechen’, über Kurden zu sprechen“, sagt sie mit einem spitzbübischen Lächeln.
Heute sei das Wort 'Terror’ in der Türkei und im Türkischen sinnentleert. „Wenn man einen Begriff derart inflationär verwendet, verliert er seine Bedeutung. Das ist eine sprachwissenschaftliche Tatsache.“
Für Necmiye Alpay, die starke Frau, die viele Jahre dem Kampf für Rechte gewidmet hat, gibt es keine absolute Hoffnungslosigkeit. „Nur manchmal wenig Hoffnung.“
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe