Die Befürworter der Verfassungsänderung dominieren mit ihren Kampagnen die klassischen Medien. Ihre Argumente überzeugen nicht alle.
In rund eineinhalb Monaten stimmt die Türkei per Volksentscheid über eine neue Regierungsform ab.
Bevor es Ja oder Nein zu einer Verfassungsänderung heißt, die die umfassende Übertragung parlamentarischer Befugnisse auf den Staatspräsidenten vorsieht, tragen alle Lager ihre Argumente für oder gegen die Reform in die Medien.
Für die „Ja-Sager“ gibt es en masse Möglichkeiten, ihre Meinung kundzutun. Da oppositionelle Medien nur noch einen Tropfen im Meer der türkischen Medienlandschaft ausmachen, dominieren die Unterstützer der Reform die Massenmedien und sind frei in ihrer Meinungsmache.
Unter diesen Umständen bleiben den „Nein-Sagern“ die sozialen Medien und die Straße. Stellt sich nur die Frage, ob sie wenigstens hier über ausreichende Bewegungsfreiheit verfügen? Leider liegt genau hier das Problem. Die Gegner der Reform stoßen auf wenig Sympathie. Von einer gleichberechtigten, fairen Kampagne kann nicht die Rede sein.
Am 10. Februar setzte der TV-Journalist İrfan Değirmenci, der ein beliebtes Morgenmagazin moderierte, eine Reihe von Tweets ab, mit denen er sein Nein zum Referendum erläuterte. Am nächsten Tag wurde er von seinem Sender, dem zur Doğan-Mediengruppe gehörenden Kanal D, entlassen. Allerdings konnte Fatih Çekirge in seiner Kolumne in der Zeitung Hürriyet, die ebenfalls zu Doğan-Medien gehört, umfangreich darüber schreiben, weshalb er mit Ja abstimmen werde.
Der Konzern begründete die Entlassung damit, dass ein Kolumnist seine persönliche Meinung äußern dürfe, ein Moderator aber nicht, was die Proteste umso stärker anfachte. Şevket Çoruh, ein Schauspieler, der seit elf Jahren in einer beliebten Fernsehserie („Arka Sokaklar“, dt. Hintergassen) des Senders Kanal D einen Kommissar darstellt, twitterte solidarisch: „Auch ich sage Nein, feuert mich doch!“
Die Repressalien sind nicht auf Entlassungen beschränkt. Laut des Berichts von Transparency International zur Beobachtung des Referendums für die Verfassungsreform vom Januar 2017 wurden 87 Personen festgenommen, weil sie sich an „Nein“-Kampagnen beteiligt hatten. Darunter Jugendliche, die ein Flugblatt mit dem Titel „Nein zum Präsidialsystem“ verteilt hatten, sowie die CHP-Politikerin Sera Kadıgil.
Trotz allem ist die Tonart der „Nein-Sager“ positiv besetzt, so als könnten sie alle Hindernisse, die sich ihnen in den Weg stellen, überwinden. Täglich werden auf Twitter und Facebook satirische Nein-Lieder geteilt. Vor allem junge Frauen produzieren und verbreiten Nachrichten in diesem Stil.
Mit der Adaption der Zeile „Frauen schwingen den Knüppel gegen die Ordnung der Welt! Nein, Tausend Mal nein!“ aus dem kurdischen Lied „Keça Kurdan“ (Kurdisches Mädchen) legte der 7-Farben-Chor, der wohl erste und einzige LGBTI-Chor in der Türkei, eine amüsante Coverversion auf.
Efe Kerem Sözeri, bekannt für seine Texte und Kommentare in alternativen Medien, griff zur Bağlama (Saiteninstument) und wandelte das Lied „Burçak Tarlası“ (Das Saatwicken-Feld) zu dem Wortspiel „Hayır’lısı Var“ (etwa: Das Nein tut gut) um. Das Video traf bei vielen Gegnern der Verfassungsreform einen Nerv; es scheint als hätte die Kraft der Musik die Menge gegen das Ein-Mann-Regime geeint.
Das Wort „Hayır“ – das neben „Nein“ auch „gesegnet oder gut“ bedeutet – hat bereits die Sprache der „Ja-Sager“ geändert. So wurde der Hashtag #HayırlıCumalar (Gesegneter Freitag), jeden Freitag Trend auf Twitter, aufgrund des enthaltenen Hayır=Nein geändert zu #CumanızMübarekOlsun (Möge Euer Freitag gesegnet sein).
Alltagsphrasen wie „Hayırlı günler, hayırlı işler“ („Einen gesegneten Tag“, „Gesegnete Geschäfte“) scheinen bis zum Morgen des 17. April aus dem Wörterbuch des „Ja“-Lagers gestrichen. Selbst Politiker der Regierungsseite geben sich alle Mühe, bloß kein falsches „hayır“ zu sagen. Diese gekünstelte Haltung stärkt gerade jene, die sich zum „hayır“ als Nein bekennen, also den Gegnern der Verfassungsreform.
Erwähnenswert ist auch die Argumentation der „Nein-Sager“. Die Repressionen gegen Journalist*innen und Akademiker*innen sowie die Massenentlassungen per Dekret stoßen in breiten Kreisen der Gesellschaft auf Ablehnung. Das „Nein“-Lager vertritt die Meinung, dass ein gestärktes Präsidialamt die bereits vorhandene Situation verschlimmern würde.
Menschen, die türkische Militäreinsätze in Syrien, die Ausgangssperren oder Repressionen gegen die kurdische Bevölkerung im Osten des Landes kritisieren oder gar selbst davon betroffen sind, machen die Regierung verantwortlich für die Beschneidung von Grund- und Freiheitsrechten. Sie denken, dass mit einem Nein zum Referendum diese Probleme gelöst werden könnten.
Im „Ja“-Lager hingegen scheint Unordnung in der Argumentation zu herrschen. Die Botschaften der Politiker und die von öffentlichen Fürsprechern sind unklar. Ihre Argumente überzeugen nicht, weshalb Meinungsumfragen Resultate weit entfernt von einem „Ja“ für die Verfassungsänderung prognostizieren.
Ein gutes Beispiel für das Durcheinander ist die Aussage von Ozan Erdem, dem stellvertretenden AKP-Vorsitzenden der Provinz Manisa, der im Zuge der Ja-Kampagne in einer Rede sagte: „Wenn wir nicht über 50 Prozent bekommen und im Referendum scheitern, müsst ihr euch auf einen Bürgerkrieg einstellen.“ Die Äußerung zog zwar seinen Rücktritt nach sich, wurde aber als Beispiel dafür registriert, dass ein „Ja“ auf Regierungsseite nicht gut begründet werden konnte.
Auch die Autorin Elif Çakır schrieb in der regierungsnahen Zeitung Karar einen Kommentar, der nach hinten losging: Sie räumte ein, dass das Präsidialsystem äußerst umfangreiche parlamentarische Befugnisse für einen Einzelnen bringe, und schlug deshalb vor, diese Befugnisse auf fünf Jahre „ausschließlich Erdoğan zu geben“. (Anm.d.Red.: Diese Äußerung zeigt, dass selbst in der AKP das Ein-Mann-Regime kritisch betrachtet wird.) Das war ungewollt Wasser auf die Mühlen des „Nein“-Lagers, dessen Kritik lautet: „Diese Systemänderung dient einem Ein-Mann-Regime.“
Ein weiteres Argument der „Ja“-Kampagne lautet, dass vor allem Organisationen wie die PKK und die sogenannte Gülen-Terror-Organisation FETÖ die Verfassungsreform ablehnen. Diese These soll nationalistische/konservative Kreise ansprechen, gleichzeitig das Nein-Lager marginalisieren. Auf einer Fraktionssitzung der AKP verkündete Premier Binali Yıldırım: „Da die PKK Nein sagt, da FETO Ja sagt, sagen wir zu dieser Reform Nei-“, bemerkte seinen Fehler und korrigierte den Satz zu: „Da FETO Nein sagt, sagen wir Ja.“
Die Verwirrung auf Seiten der „Ja-Sager“, ihr Mangel an überzeugenden Argumenten und die Art und Weise, wie sie „Nein-Sager“ diskriminieren, könnte vermutlich dem Nein-Lager nützen.
Hier kommt eine große Gruppe von Wähler*innen ins Spiel, die zwischen Ja und Nein schwanken, unentschieden sind oder sich scheuen, ihre Entscheidung offen auszusprechen – die sogenannten „Jein-Sager“. Möglicherweise bestimmen sie den Ausgang des Referendums. Entscheidend wird sein, welchem Lager es gelingen wird, seine Argumente effektiver, vielschichtiger und überzeugender darzustellen.
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe