Das Verfassungsreferendum rückt näher. Wie steht es um die Ja- und Nein-Kampagnen? Wir sprachen mit dem politischen Berater Osman Suat Özçelebi.
Osman Suat Özçelebi ist Gründer und Leiter der politischen Beratungsagentur SİTA in Istanbul. Bei allen Parlaments- und Regionalwahlen seit 1992 hat er Kandidaten verschiedener Parteien beraten. Özçelebi, der eine Weile auch als Wirtschaftskorrespondent der Tageszeitung Hürriyet tätig war, berät auch zivilgesellschaftliche Organisationen. Wir haben mit ihm über den Wahlkampf im Vorfeld des Verfassungsreferendums gesprochen.
Osman Suat Özcelebi: Der politische Diskurs hat sich weit entfernt von einer einenden hin zu einer destruktiven Rhetorik. Das verschärft die Spannungen innerhalb der Gesellschaft. Lagerpolitik spaltet auch die Bevölkerung in Lager, als gäbe es keine politischen Gegner, sondern nur „Feinde“. Das Sprachniveau ist sichtlich gesunken.
Die Eventualität einer grundlegenden Systemveränderung durch das Referendum verstärkt natürlich die Anspannung. Eine Verfassungsänderung während des Ausnahmezustand, in dem Menschen nicht die Freiheit haben, sich über die entsprechenden Änderungen zu informieren und diese zu diskutieren, ist beunruhigend. Auch das verschärft den politischen Ton. Meines Erachtens nach wird die Durchführung einer derart wichtigen Verfassungsänderung rückblickend für alle Beteiligten eine Schande sein.
Politische Kommunikationsberatung ist nicht nur die Arbeit von Werbemenschen während einer Wahlkampfperiode. Wir führen auch Studien durch, erstellen politische Beobachtungsdiagramme, politische Analysen, stellen Medienkontakte her, managen Krisen für Kandidaten und deren Parteien.
Wir haben den Grundsatz, dieselbe Distanz, beziehungsweise Nähe zu allen von der Verfassung anerkannten politischen Parteien und deren Kandidaten zu haben. Und wir arbeiten nicht nur für Parteien, sondern für alle Menschen, die sich mit Politik beschäftigen. Unser Klientel umfasst auch zivilgesellschaftliche Organisationen.
Eigentlich ist das aus demokratischer Sicht eine positive Erfahrung für die Türkei, eine Reihe von unmöglichen Allianzen. Schließlich gesellen sich im Nein-Lager neben die genannten regionalen Gruppierungen der MHP auch Sozialisten, die prokurdische HDP, islamistische Oppositionelle und die CHP. Es ist eine Prüfungsphase für alle Kritiker des parlamentarischen Regimes. Doch hinter der Regierungspartei AKP steht eine ganze Werbeindustrie, es bräuchte eine ähnlich große Partei, die sich dagegen stellt. Während das Ja-Lager keine Ressourcenprobleme hat, steht die gegnerische Seite unter enormem Druck.
Sie sind nicht genügend in den Medien vertreten. Bei solchen Kampagnen ist das nationale Fernsehen von großer Bedeutung. Auf Anordnung des Fernsehrats muss während des Ausnahmezustands für die Berichterstattung über aktuelle Ereignisse stets die Genehmigung durch öffentliche Autoritäten eingeholt werden. Das erscheint wie eine eigens für die Gegner des Referendums eingerichtete Methode. Die Regierung hatte kürzlich die Regelung, allen Parteien die selbe Sendezeit einräumen zu müssen, durch ein Notstandsekret aufgehoben.
Ich halte den Reaktionsmus der Ja-Kampagne für falsch. Vor allem die Gleichsetzung der Nein-Sager mit Putschisten ist eine Einschüchterungstaktik. Dies widerspricht der bisherigen Kampagnenführung der AKP, die mal proaktiv und projektorientiert war. Die Abwesenheit des früheren Kampagnenchefs Erol Olcok ist deutlich zu spüren. Er wurde im vergangenen Sommer mit seinem Sohn während des Putschversuchs getötet.
Das stimmt. Erdoğan verhält sich immer weniger wie ein Stratege, sondern ist damit beschäftigt dieses eine Ergebnis zu retten und scheint dabei seine zukünftigen Ziele aus den Augen verloren zu haben.
Ich beobachte zumindest einen Pluralismus, bei dem niemand einander auf die Füße tritt. In den Sozialen Medien steckt viel Bewegung, es werden sehr kreative Memes und Videos produziert. Doch inwieweit sich das auf Kampagnen im unmittelbaren Lebensraum, in Wohngegenden widerspiegelt, ist unklar.
Es gibt diese Gerüchte. Ähnlich verschwörerisch wie, dass Wahlumfragen nicht veröffentlicht werden. Dabei werden sie veröffentlicht. Ich persönlich denke, es ist unwahrscheinlich, dass das Referendum abgesagt wird, es sei denn ein Krieg bricht aus. Aber es ist noch fast ein Monat bis zum Referendum und ich kann nicht verneinen, dass seltsame Dinge in dieser Zeit geschehen könnten. In einem Land, in dem die eigenen Militärflugzeuge das Parlament bombardieren, wie unglücklicherweise am 15. Juni 2016 geschehen, ist leider nichts auszuschließen.
Ich sehe das gar nicht so, dass überall über Politik gesprochen wird. Egal, wie politisiert die Bevölkerung ist, die meisten Menschen sind am Ende mit sich selbst beschäftigt. Das Tagesgeschehen wird von Arbeitslosigkeit und Terrorangst dominiert. Es gibt 15 bis 20 Prozent unentschlossene Wähler*innen. Einer aktuellen Studie zufolge, wird eine große Mehrheit der jungen Wähler*innen eventuell nicht zur Wahl gehen.
Viele glauben nämlich, dass ihre Stimme keinen Einfluss auf das Gesamtergebnis haben wird. Mit einer Wahlbeteiligung von 70 Prozent hinkt die Türkei anderen westlichen Ländern sowieso hinterher. Die Beteiligung spielt also eine Schlüsselrolle bei dieser Wahl. Ebenso die Unentschlossenen und Wahlbeobachtung.
Ich denke nicht, dass die polemischen Auseinandersetzungen mit Deutschland oder anderen EU-Staaten aufhören werden. Es ist vielsagend, dass Holland diese diplomatische Krise auch für den eigenen Wahlkampf genutzt hat. Zum Glück sind die Wahlen in Deutschland erst im September, sonst hätten wir wahrscheinlich derartige Peinlichkeiten auch in Deutschland erlebt. Die Auslandswähler*innen wurden auf einen Nenner gebracht, die AKP hat eine augenfällige Vormachtstellung errungen. Das Nein-Lager muss sich auf die Erstwähler*innen konzentriert, um einen Wechsel zu erringen.
Das Lagerdenken muss dringend aufhören. Statt einer neuen Verfassung sollten darüber diskutieren, wie wir das parlamentarische System, ähnlich wie in einigen EU-Staaten, durch die Änderung von Partei- und Wahlgesetzen demokratisieren können. Das wird die Vormundschaft und die Oligarchie der Parteivorsitzenden beenden, und den Willen der Bevölkerung in die Regierung tragen, wo Abgeordnete tatsächlich das Volk repräsentieren. Zudem kann eine Demokratie nicht im Ausnahmezustand regiert werden.