Fast zwei Jahre lang begleitete das Journalistenkollektiv butterland den türkischen Journalisten Tunca Öğreten. Seit dem 25. Dezember befindet er sich in Haft.
Anything can happen to journalists in this country. Anything. You can be shot. You can be jailed. Anything can happen.
Tunca Öğreten, Dezember 2015
Die Nachricht schleicht sich auf dem Handydisplay hinterhältig zwischen die Weihnachtsgrüße: „Tunca wurde verhaftet.“ Vor ein paar Tagen haben wir noch geskypt, eines unserer regelmäßigen Gespräche, in dem wir erfahren, wie es ihm geht. Wie es dem Journalismus in der Türkei geht. Fast 18 Monate haben wir Tunca und einige seiner Kollegen begleitet.
Tunca arbeitet als investigativer Journalist für Diken, eines der letzten unabhängigen Nachrichtenportale der Türkei. Diken heißt ‚Dorn‘ und Tunca hat dafür gesorgt, dass der weh tut. Er schreibt über den Bürgerkrieg in den Kurdengebieten, recherchiert vor Ort, wertet Dokumente über Regierungsaktivitäten aus. Im Rückblick war es nur eine Frage der Zeit. Trotzdem war immer klar: Er bleibt. Er ist Journalist. Seinen Beruf könnte er im Ausland nicht ausüben.
„Ich bin neugierig. Und ich liebe es, die verborgenen Bereiche des Lebens zu entdecken.“ Er will weiter recherchieren und die Welt darüber informieren, was da gerade passiert in der Türkei. Vorbei. „Tunca wurde verhaftet.“ Wir sichten unser Interviewmaterial. Der letzte Satz des letzten Gesprächs: „Wenn deine Zeit gekommen ist, dann kriegen sie dich.“
Seine Zeit ist also gekommen. Aber zurück zum Anfang.
Als wir für erste Gespräche nach Istanbul reisen, ist die Stimmung noch weit entfernt von dem Zustand, der seit dem Putschversuch in der Türkei herrscht. Der Druck auf die Journalisten ist zu dieser Zeit noch subtiler und nicht Dauerthema in den internationalen Medien. Aber deutlich spürbar. Auch für Tunca.
Er hält sich an seiner Zigarette fest, während er uns erzählt, was es mittlerweile bedeutet, Journalist in der Türkei zu sein. Nicht ohne Stolz darüber, dass er genau das immer noch ist. Dass er den eigenen Standards immer noch treu bleibt. Wer nicht auf Regierungslinie ist, wird wie ein Krimineller behandelt, sagt er. Gegen Tunca laufen zu diesem Zeitpunkt neun Verfahren.
Traut er sich überhaupt noch, frei zu schreiben? „Ich bin Journalist. Ich halte mich an die Regeln des Journalismus.“ Hat er wirklich keine Angst? Doch, aber Angst zu haben ist besser als die Alternative: sich auf Regierungslinie bringen zu lassen. „Ich bin kein Regierungssprecher“, sagt Tunca. „Ich will den Türken die Wahrheit zeigen.“ Er selbst zensiert sich nicht. Sein einziges Zugeständnis: Er vermeidet alles, was ihm ein Beleidigungsverfahren einbringen könnte. Ansonsten macht er seine Arbeit. Noch.
Die Attacken der Regierung zeigen aber bereits ihre zersetzende Wirkung: Journalisten werden auf der Straße beschimpft, Tunca hat Schwierigkeiten, Interviewpartner zu finden, die ihm vertrauen. Auf Twitter bekommt er Drohungen. Als er über einen zehnjährigen Jungen berichtet, der durch einen Kopfschuss getötet wurde, twittert jemand: „Wir werden dir auch in den Kopf schießen.“
Zu den Beschimpfungen, den Drohungen und den Anklagen kommen Geldsorgen. Tunca verdient schon lange nicht mehr genug, um davon zu leben – aber immerhin verdient er. Das verdankt er dem Gründer von Diken, Harun Simavi. Er steckt privates Vermögen in das Portal aus Liebe zum Journalismus. Was über Anzeigen hereinkommt, kann die Kosten nicht decken.
Wie lange das Diken-Geld noch reicht, um die Honorare zu bezahlen, weiß Tunca nicht. Um sich seine Miete leisten zu können, arbeitet er hin und wieder als Fixer für ausländische Medien. Aber vor allem lebt er von seiner damaligen Verlobten und jetzigen Frau, die Geld zurückgelegt hat. Auch sie ist Journalistin und weiß, dass unabhängiger Journalismus in der Türkei gerade auf Querfinanzierung angewiesen ist.
Der Putschversuch: Tunca sitzt Tag und Nacht in der Redaktion und berichtet über eine Folge von Ereignissen, die kaum einer für möglich gehalten hätte. Erdoğan nutzt die Situation, um Justiz, Beamtentum und Medien von seinen Gegnern zu säubern. Der Druck auf Diken wächst. Wir erreichen Tunca in der Redaktion, hinter ihm flackern Nachrichten über den Bildschirm, er raucht Kette, ein Energy-Drink in Reichweite. Neben Hektik und Schlafmangel spricht aus seinen Augen immer noch Trotz. In die Kurdengebiete kann er nicht mehr reisen – er muss vom Schreibtisch aus recherchieren.
Er schildert den Alltag in einer Redaktion, die nicht weiß, wie lange sie noch existiert. „Für uns ist es momentan schlimmer als wir es uns je vorgestellt haben. Ich werde immer noch juristisch verfolgt. Wir alle werden bedroht. Es heißt, Diken mache Propaganda für die PKK. Das machen wir nicht. Wir sind einfach nur ein Oppositionsmedium.“ Aber er und seine Kollegen machen weiter. Was soll die Frage?
Gegen Tunca laufen mittlerweile elf Verfahren – warum er noch nicht verurteilt wurde, weiß selbst sein Anwalt nicht. Am Wochenende arbeitet er, damit er seine freien Tage unter der Woche bei Gericht verbringen kann: Anhörungen beim Staatsanwalt, Urteilsverkündungen. Manche seiner Kollegen sprechen darüber, das Land zu verlassen. Tunca will bleiben – aber er fühlt sich bedroht.
„Seit unserem letzten Gespräch bin ich in viel größerer Gefahr. Ich werde massiv von diesen Pro-Regierungs-Trollen bedroht. Hunderte Journalisten haben das Land verlassen. Aber ich bleibe. Irgendwer muss denen Widerstand leisten.“ Aber die Realität verpasst seiner Entschlossenheit erste Risse: „Vielleicht hört sich das in ein zwei Monaten ganz anders an. Ich will meine Jahre nicht im Knast verbringen.“
Unser letztes Skype-Gespräch findet im Dezember statt, kurz zuvor tötet eine Bombenexplosion nahe eines Fußballstadions in Istanbul 44 Menschen. Tunca sitzt in seiner Wohnung, er geht nicht mehr in die Redaktion. Sein Anwalt sagt ihm, das nächste Verfahren werde er nicht überstehen. Er kann nicht mehr arbeiten, es ist zu riskant. Das zehrt an ihm. Er ist Journalist. Er lebt für seine Veröffentlichungen, die sich mittlerweile auf Tweets beschränken. Über 24.000 Follower hat er.
Diken steht kurz vor der Schließung – niemand schaltet dort mehr Anzeigen. Chefredakteur Erdal Güven fürchtet, dass es nicht mehr lange weitergeht. Für Güven ist drohendes Gefängnis nicht das Schlimmste: „Kein Geld zu haben ist für uns schlimmer, als verhaftet zu werden. Wir sind ersetzbar. Aber ohne finanzielle Unterstützung ist es vorbei.“
Zum ersten Mal erleben wir Tunca ohne diese vibrierende Energie. Er wirkt plötzlich zerbrechlich. „Nach jedem unserer Gespräche wird es hier noch schlimmer. Jeden Tag, jede Stunde. Ich habe ein Leben, ich will meine Verlobte nicht verlieren. Ich habe Angst, aber nicht um meinetwillen.“
Tunca kann nun nicht mehr für andere kämpfen – er braucht selbst Hilfe. „Könnt ihr irgendwas für mich tun?“ Die Frage kommt per WhatsApp. Zu spät. Am 24. Dezember veröffentlicht er seinen letzten Tweet. Einen Tag später wird er festgenommen. Nachts um drei holen sie ihn aus seiner Wohnung. Seither sitzt er im Gefängnis. Was man ihnen genau vorwirft, ist unklar – es gibt keine Anklage.
Tunca ist jetzt selbst zum verborgenen Teil des Lebens geworden. Es ist an anderen, für Sichtbarkeit zu sorgen.