Selahattin Demirtaş, Kovorsitzende der oppositionellen HDP, sitzt seit dem 4. November 2016 im Gefängnis. Seine Anwältin Ayşe Acinikli berichtet über seine Haftbedingungen.
Am Donnerstag rief Selahattin Demirtaş in einer Botschaft aus dem Gefängnis alle türkischen Staatsbürger dazu auf, am Sonntag über das Referendum abzustimmen. Nur ein „Nein“ werden zu Frieden, Stabilität und Brüderlichkeit in der Türkei beitragen, aber jede Entscheidung müsse respektiert werden. Demirtaş betonte, dass der Wahlkampf nicht fair und gleichberechtigt abgelaufen sei.
Neben ihm und der zweiten Co-Vorsitzenden Figen Yüksekdağ wurden 11 weitere Abgeordnete der HDP verhaftet. „Der einzige Grund unserer Verhaftung war, zu verhindern, dass wir uns von den Plätzen und den Medien aus ans Volk wenden.“ Am Ende seiner Nachricht hieß es: „Ich hoffe, dass wir uns in der Nacht des Referendums als ein gemeinsames Volk versammeln und nicht unter einem Mann.“
Ayşe Acinikli ist Menschrechtsanwältin und verteidigt Oppostionelle, sowie dezeit Selahattin Demirtaş. Die Juristin wurde im vergangenen Jahr im Rahmen der Angklage gegen die Mitglieder des Anwaltvereins für den Frieden (ÖHD) fünf Monate in Haft genommen. Ihr wurde vorgeworfen als sogenannte „Kurieranwältin der PKK“ tätig zu sein.
Ayşe Acinikli: Der Prozess von Demirtaş wurde in Diyarbakir eröffnet. Die Beschuldigungen reichen von Beleidigung der Türkischen Republik, über Beleidigungen des türkischen Volkes, der türkischen Nationalversammlung und des Staatspräsidenten bis hin zur Beleidigung der Streitkräfte und Sicherheitskräfte des Staats. Außerdem werden ihm Propaganda für die PKK vorgeworfen, Volksverhetzung und Aufstachelung der Bevölkerung. Im Rahmen dieser Beschuldigungen gibt es zu seiner Person bereits zahlreiche Akten. Wenn wir versuchen würden, anhand dieser Akte Unter- und Obergrenzen der geforderten Strafmaße zu berechnen, würden wir an dieser Aufgabe scheitern.
Das Vorgehen gegen Politiker*innen der HDP erfolgte von Anfang an ohne rechtliche Grundlage. Während es zu Beginn noch Diskussionen über die Immunität verschiedener Politiker*innen gab, waren am Ende ausschließlich die HDP-Politiker*innen von der Aufhebung jener Immunität betroffen. Dabei sollte die Aufhebung für alle Parteien gelten, gegen deren Politiker*innen Untersuchungen aufgenommen wurden.
Im Strafrecht ist es nicht vorgesehen dass eine Tat, die während ihrer Ausführung keine Straftat war, später mit einer neuen Gesetzgebung rückwirkend als solche deklariert werden kann. Das heißt, die Immunität der Co-Vorsitzenden der HDP, Demirtaş und Yüksekdağ und der weiteren elf verhafteten Abgeordneten wurde rückwirkend für einen bestimmten Zeitraum aufgehoben. Und es wurden Prozesse und Ermittlungen aufgrund von Reden begonnen, die in eben diesem Zeitraum gehalten wurden. Auf dieser Basis wurden die Abgeordneten schließlich verhaftet.
In der Türkei sind solche Situationen nie dem Zufall geschuldet. Der Staat ist dafür verantwortlich, die Gesundheit, Sicherheit und körperliche Unversehrtheit von Gefängnisinsassen zu garantieren. Wer kann garantieren, dass die IS-Terroristen in der Nebenzelle bei einer möglichen Nachlässigkeit der Gefängniswärter Demirtaş nicht angegriffen hätten? Solche Maßnahmen haben das Ziel, die Betroffenen zu zermürben, zu verängstigen und einzuschüchtern. Als Demirtaş die Lage verstanden hatte, forderte er eine andere Zelle. Demirtaş ist selbst ein Anwalt. In diesem Fall konnte er die notwendigen Schritte selbst einleiten.
Demirtaş erfährt eine gesonderte Behandlung in der Haftanstalt. Für eine Zeit war er in Isolationshaft. Die Gespräche mit seinen Anwälten wurden anfangs aufgenommen. Normalerweise werden Gespräche zwischen Anwalt und Klient weder aufgenommen, noch als Beweismittel genutzt. Auch wenn versucht wird, solche Maßnahmen im Ausnahmezustand mit Hilfe von Notstandsdekreten zu legitimieren, sind sie unrechtmäßig. Derzeit werden die Gespräche nicht mehr aufgenommen. Nachdem er gesundheitliche Probleme überstanden hat, schaffte es Demirtaş in eine Zelle mit dem HDP-Abgeordneten Abdullah Zeydan zu kommen. Die Verhafteten haben eigentlich das Recht auf Ausgang in einem gemeinschaftlichen Bereich, auf Unterhaltungen mit anderen und auch auf das Betreiben von Sport. Derzeit wird Demirtaş allerdings nur erlaubt, diese Tätigkeiten gemeinsam mit Abudallah Zeydan zu unternehmen.
Die aktuellen Umstände machen eine Kommunikation nahezu unmöglich. Zum Beispiel hatte Herr Demirtaş eine Rede vorbereitet, die auf einem Treffen der HDP-Fraktion im Parlament vorgelesen werden sollte. Die Rede wurde geschwärzt und an ihn zurückgegeben. Diejenigen, die in der Haftanstalt die eingehenden Briefe überprüfen, streichen Teile des Geschriebenen durch, die sie als schädlich einstufen.
Teilweise. Manche Briefe werden erst gar nicht ausgehändigt. Auch die Post, die erst selbst nach außen schickt, kommt nicht immer an. Trotz allem verfasst Demirtas wie viele andere inhaftierte Abgeordneten vom Gefängnis aus weiterhin parlamentarische Anfragen und schicken diese per Fax an ihre Parlamentsfraktion, um so ihrem Mandat nachzugehen.
Die Menschenrechtsverletzungen, die es in der Türkei ohnehin schon gab, haben sich mit dem Ausnahmezustand nochmal verschärft. So wurden zum Beispiel das Recht auf Telefonieren und Besuchszeiten eingeschränkt. Es gibt sogenannte “nackte Durchsuchungen“, bei denen sich Menschen ausziehen müssen. Es werden Bücher beschlagnahmt, die eigentlich nicht verboten sind. Familienangehörige, die zu Besuch kommen, werden schikaniert. Es passiert auch, dass jemand, der in Diyarbakir lebt und dort seinen Prozess hat, einfach nach Edirne gebracht wird. So geschehen im Fall Demirtaş.
Ja, Gefangene, die sich willkürlichen Maßnahmen widersetzen, erleiden physische Gewalt und Folter. Laut einer Verordnung in einem der Dekrete können keine Ermittlungen wegen Straftaten von Ordnungsbeamten aufgenommen oder gegen diese vorgegangen werden, wenn sich diese Straftaten während des Ausnahmezustands ereigneten – dazu zählen auch Folter und Mord. Wir erstatten Strafanzeige und die Staatsanwälte antworten uns, dass sie aufgrund des Dekrets nicht ermitteln können.
Herr Demirtaş wurde Zeuge und Betroffener solcher Vorfälle, die sich in den Gefängnissen in letzter Zeit zugetragen haben. Wegen dieser Vorfälle begannen in Edirne und in fast allen anderen Haftanstalten Hungerstreiks. Nachdem die Leitung der Haftanstalt Edirne und das Justizministerium Anfragen ignorierten, haben sich auch Demirtaş und Zeydan dem Hungerstreik angeschlossen. Daraufhin hat die Leitung der Haftanstalt Gespräche akzeptiert. Auch mit dem Justizminister wurde kommuniziert und in manchen Punkten gab es Übereinkünfte. Daraufhin wurde der ursprünglich zeitlich unbegrenzte Hungerstreik in Edirne beendet.
Man kann das Ende des Hungerstreiks auch als einen Schritt gegenseitigen Wohlwollens interpretieren. Jedoch wird ein zeitlich begrenzter Hungerstreik weiterhin fortgesetzt, etwa in der Haftanstalt Şakran. Die Verbesserung der Haftbedingungen ist nicht die einzige Forderung der Hungerstreikenden. Sie fordern auch, dass das politische und militärische Vorgehen gegen die kurdische Bevölkerung eingestellt und die Isolationshaft für Abdullah Öcalan beendet wird.
Er verfolgt das Tagesgeschehen sehr genau und sagt über das Referendum bei jeder Gelegenheit: “Wir haben Recht, wir werden auf jeden Fall gewinnen.“
Demirtaş interessiert sich für Musik, Malerei und Literatur. Er spielt auch seine Bağlama. Bevor wir ihn besuchen gehen, fragen wir uns immer, welche Bücher er wohl gerne lesen möchte. Man kann aber sagen, dass er seinen Tag grundsätzlich mit Arbeiten verbringt.