In Ankara protestieren Nuriye Gülmen und Semih Özakça gegen die Suspendierung von Akademiker*innen. Seit mehr als 60 Tagen befinden sie sich im Hungerstreik.
Haben Sie jemals Hunger gelitten? Wissen Sie, was der Entzug von Nahrung in Ihrem Körper anrichtet?
Der menschliche Körper verbrennt erst alle Kohlenhydrate, dann Fett und Proteine. Dabei verliert er in den ersten 24 Stunden zwischen 800-1500 Gramm Körpergewicht. In den darauf folgenden zehn Tagen täglich einen Kilogramm, an jedem weiteren 300 Gramm. Die Haut wird dünn und schuppig. Sie erscheint entweder blass, glänzend oder durchsichtig, manchmal aber auch grob und dick. Körperbehaarung fällt aus. Haare werden trocken und verlieren ihren Glanz. Um den 35. Tag herum greift der Körper auf das Protein in der Muskulatur zurück. Wenn der Körper 40-45 Prozent seines Gewichts verloren hat, wird es lebensgefährlich.
Der Flüssigkeitsmangel, die gesunkene Körpertemperatur und der Funktionsverlust der Zellen in Armen und Beinen sind Begleiterscheinungen des Todes. Dieser tritt in den meisten Fällen durch Lungenentzündung ein. Wenn der Kreislauf zusammenbricht und der Stoffwechsel versagt, stirbt der Mensch.
Beim ersten Treffen mit der Akademikerin Nuriye Gülmen vor dem Menschenrechtsmahnmal in Ankara fällt als erstes ihre funkelnde Haut auf. Wie kann die Haut eines Menschen, der sich seit Wochen im Hungerstreik befindet, so glänzen? Und wieso trägt Nuriye Gülmen an diesem sonnigen Tag, der das Ende des dunklen Winters in Ankara ankündigt, schwere Winterstiefeln und eine dicke Strickjacke? Die Antworten finden sich auf der Internetseite der Türkischen Ärztegemeinschaft.
Gülmen's Gesicht glänzt vor Hunger. Ihre Körpertemperatur ist gefallen, sie friert. Und sie bewegt sich wie in Zeitlupe. Ihr athletischer Körper ist sehr schmal geworden. Mit jedem Schritt verzieht sie das Gesicht, das Gehen fällt ihr sichtlich schwer. Ärzte würden zu diesem Zeitpunkt wohl den eingesetzten Muskelschwund diagnostizieren.
Aber warum hungert die junge Frau? „Ich leiste Widerstand für mein Brot und meine Arbeit“, so Gülmen. Die Dozentin ist eine von Hunderten Akademiker*innen, die per Notstandsdekret (KHK) von einem Tag auf den anderen ihre Arbeit verloren haben. Seitdem ist sie entschlossen, gegen diese Ungerechtigkeit zu kämpfen. Und sie kämpft nicht nur für sich allein. Gülmen erzählt, wie deutlich sie das Unrecht miterlebt, das anderen Menschen widerfährt.
„Als sich beispielsweise Massaker in Nusaybin im Südosten ereigneten, konnte ich in der Nacht nicht schlafen und hatte zum ersten Mal den Gedanken, in den Hungerstreik zu treten. Jemand, der sich nicht die Frage stellt, in was für einem Land wir leben, kann auch keinen Hungerstreik durchziehen. In was für einem Land lebe ich eigentlich?“, fragt Gülmen. Nuriye Gülmen und ihr Mitstreiter Semih Özakça, haben nun einen kritischen Punkt erreicht. Seit 63 Tagen befinden sie sich im Hungerstreik. Das Leben ist heilig und die beiden haben die Macht darüber aus ihren Händen gegeben. Sie sind sich einig: „Wir haben recht.“ Nun ist es an der türkischen Regierung hierauf zu reagieren.
Gülmen ist überzeugt davon, dass Wut, wenn er denn richtig eingesetzt wird, die Menschen stärken kann. „Unser Widerstand stützt sich auf die Wut, die wir verspüren, wenn wir die Frage stellen, wie sie uns das antun können?“ Der Hungerstreik, den Gülmen und Özakça führen und der seit mehr als 180 Tagen andauernde Protest der Lehrer*innen Esra Özakça und Acun Karadağ, der Krankenschwester Saniye Erenler Öztürk und des Soziologen Veli Saçılık, ist das Resultat ihrer Wut. „Als ich mich auf diesen Platz begab, ging ich davon aus, dass ich festgenommen werde. Ja, wir sind für unsere Arbeit in den Hungerstreik getreten, aber auch für alle anderen Menschen, die in diesem Land Ungerechtigkeiten erfahren“, so Gülmen.
Gülmen, die sich dieser Tage als „Widerstandskämpferin“ bezeichnet, wurde 1982 in Kütahya geboren. In ihrer Schulzeit war sie – auch wenn sie den Ausdruck nicht mag – eine Streberin. Die Tochter einer Beamtenfamilie, die „weder arm noch reich“ war, redet nicht gerne über ihre Familie. Doch es wird deutlich, dass traditionelle Werte wichtig waren.
Als sie von ihrem Leben erzählt, spricht sie von ihrer „ersten Begegnung mit revolutionärem Gedankengut.“ Bis zum Jahr 2012 habe sie nicht einmal an Demos teilgenommen. Bis sie eines Tages auf dem Heimweg von einem Picknick mit Freunden die Mitglieder des Vereins für Angehörige von Inhaftierten (TAYAD) auf der Straße traf. Sie hatten einen Sitzstreik organisiert, um für das „Recht auf Kommunikation“ in Gefängnissen zu protestieren.
Dort unterhielt sich Gülmen mit einer Mutter, deren 16-jähriger Sohn sich im Gefängnis befand. Damals verstand sie die politische Situation nicht und fragte die Frau nach dem Beruf ihres Sohnes. „Es war die schlimmste Peinlichkeit meines Lebens“, sagt sie heute. „Als ich sah, was eine Mutter für ihren Sohn tun kann, schämte ich mich und war gleichzeitig sehr beeindruckt“ erinnert sich Gülmen.
Die meisten Passanten gehen an dem Protest vorbei, ohne diesen weiter zu beachten. Doch hin und wieder solidarisieren sich auch Menschen, die sich dazu stellen und mit ihnen unterhalten. Inzwischen bekommt Gülmen auch ihre Post an den Protestort, als sei das Menschenrechtsdenkmal ihre Anschrift. Während Gülmen und Özakça hungern, füllen sich die umliegenden Cafés und Restaurants mit Menschen, die die ersten Sonnenstrahlen des Jahres genießen wollen.
Auf die Frage, wie Gülmen diese Situation findet, antwortet sie lächelnd: „In der Türkei leben Millionen von Menschen. Würden alle so denken wie wir, würden wie in einem anderen Land leben. Trotz dieser Realität und um sie zu ändern, müssen wir alles uns Mögliche tun.“
Gülmen ist der Überzeugung, dass die Regierung verantwortlich für alles ist, was in der Türkei geschieht. „Konkret die AKP-Regierung. Die Machthaber in der Türkei sind für alles verantwortlich. Nicht nur dafür, dass wir gefeuert wurden. Selbst wenn unsere Nasen bluten würden, wären sie die Verantwortlichen. Denn sie sind diejenigen, die die Entscheidungen treffen“, so Nuriye. Viele Menschen unterstützen die AKP und nicht nur sie betrachten Menschen wie Nuriye als „Terroristen“.
„Doch nicht alle beurteilen die Realität auf diese Weise“, sagt sie. Manche Menschen kommen und beschweren sich lautstark über diejenigen, die die AKP wählen. Und wenn sie dabei zu derbe sind, stört sie das. Es ist durchaus denkbar, dass die Regierung, die mit über 30 Verhaftungen versuchte ihren Protest zu unterbinden, sie dem Tod überlässt.
„Wenn die Herrschenden jemanden umbringen möchten, wollen sie dabei die Art und Weise, sowie den Zeitpunkt bestimmen. Das Spiel ändert sich, wenn jemand sagt: ‚Das kannst du mir nicht antun und deshalb setze ich mein Leben aufs Spiel.‘ Mit dem Protest appelliert man an das Gewissen des Volkes und macht deutlich: Die Herrschenden sind schuld“, so Gülmen.
Und wenn die Herrschenden nicht aufgeben? Nimmt Gülmen den Tod in Kauf? Was passiert, wenn es zu spät wird, um aufzuhören? Gülmen sagt, auch sie hätten keine Antworten auf diese Fragen. Und, dass diese Fragen auch den Machthabern gestellt werden müssen: „Was, wenn die Körper und Gehirne dieser Menschen bleibende Schäden erleiden, bevor sie zu ihrer Arbeit zurückkehren? Wie wollt ihr das erklären? Wie wollt ihr jemals wieder in das Gesicht eurer Bürgerinnen und Bürger blicken?“
Gülmen ist davon überzeugt, dass man hart dafür kämpfen muss, um in der Türkei Recht zu bekommen: „Ich habe mich immer als verantwortungsvolle Person gesehen. Ich weiß, wie man etwas gewinnt. Meine Einstellung war von Anfang an: Ja, sie können mich festnehmen, aber ich kann sie im Gegenzug zermürben. Sie werden aufgeben.“
*Update: Die Ärztekammer in Ankara teilte um 16Uhr Ortszeit mit, dass sich der Gesundheitszustand von Nuriye Gülmen und Semih Özakça erheblich verschlechtert hat. Das Immunsystem der beiden Aktivist*innen ist geschwächt, Kreislauf und Herzrhythmus sind unregelmäßig, darüber hinaus wurden mentale und motorische Störungen festgestellt.