Nuriye Gülmen und Semih Özakca sind im Hungerstreik und fordern ihre Jobs zurück. Kolleg_innen in Deutschland unterstützen sie mit einer Aktion.
„67 Tage“ steht auf einem Plakat, das eine Frau am Sonntag vor dem Brandenburger Tor in den Händen hält. Sie nimmt an einem symbolischen zwölfstündigen Hungerstreik von türkeistämmigen Exilakademiker_innen teil, in Solidarität mit Nuriye Gülmen und Semih Özakça.
Seit dem 11. März nehmen die Literaturwissenschaftlerin Gülmen und der Lehrer Özakça keine Nahrung mehr zu sich, außer gezuckertes Wasser und Tee. Sie führen einen öffentlichen Hungerstreik, mit dem sie gegen ihre Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst protestieren, nach dem vereitelten Putschversuch am 15. Juli 2016. Betroffen sind 7916 Akademiker_innen, von denen 452 im Januar 2016 eine Friedenspetition gegen den Krieg in den kurdischen Gebieten unterzeichnet hatten.
Zahlreiche Akademiker_innen, die nach Entlassung und öffentlicher Denunziation keine Chancen mehr auf Beschäftigung haben, leben im Exil. Viele sind heute in Deutschland. Beim symbolischen, zwölfstündigen Hungerstreik der „Akademiker für den Frieden Deutschland“ am Brandenburger Tor nehmen 12 von ihnen teil. Muzaffer Kaya ist einer von ihnen.
Bis zum 8. Februar 2016 arbeitete Kaya als Dozent für Soziale Arbeit an der Nisantasi Universität. Nachdem er als Stipendiat der Rosa Luxemburg Stiftung kurzzeitig an der Alice Salomon Hochschule arbeiten konnte, ist er nun Gastforscher am „Zentrum Moderner Orient“. Kaya erzählt, dass auch am Place de la Republique in Paris ein symbolischer Hungerstreik stattfindet: „Viele haben gar nicht die Möglichkeit, das Land zu verlassen. Uns geht es nicht darum, uns selbst zur retten. Das ist alles auch für unsere Freundinnen und Freunde, die noch dort sind.“
„Nicht für den Tod, wir sind für das Leben“ lautet der Titel der gemeinsamen Presseerklärung der Gruppe, die zur Mittagszeit auf Türkisch, Deutsch und Englisch verlesen wird. Bei den „Akademiker_innen für den Frieden“ gab es immer wieder Stimmen, die eine Unterstützung des Hungerstreiks kritisierten und dafür plädierten, Gülmen und Özakça davon zu überzeugen, aufzuhören – bevor es zu spät ist.
„Manche finden diese Protestform nicht richtig“, sagt Kaya. „Aber was bleibt uns übrig, außer sie zu unterstützen.“ Es gehe darum, die Stimmen der beiden zu vervielfachen – und damit die Regierung vielleicht dazu zu bringen, einen Schritt zurückzugehen.
Der gesundheitliche Zustand von Gülmen und Özakça wird derweil von Tag zu Tag dramatischer. Sie weisen Symptome des lebensbedrohlichen Wernicke-Korsakoff-Syndroms auf. Irreversible Schäden werden wahrscheinlich. Vom Staat fehlt bisher jede Reaktion. „Ich glaube nicht, dass der Hungerstreik ein effektives Protestmittel in der Türkei ist“, sagt Zeynep Kıvılcım, die seit Oktober 2016 in Deutschland ist. Die Politikwissenschaftlerin von der Universität Istanbul wurde per Notstandsdekret entlassen. „Diesen Staat interessiert gar nichts mehr“, begründet sie.
Trotzdem, auch Kıvılcım sieht es wie Kaya: Es bleibt nichts anderes übrig, anderes als die Forderungen der Hungerstreikenden zu unterstützen. Der Hungerstreik sei schließlich deren persönliche Entscheidung. Langfristig gehe es aber um Organisation: Ein Verein der „Akademiker_innen für den Frieden in Deutschland“ soll bereits Ende Mai ins Leben gerufen werden.
Es gibt regen Austausch mit der deutschen Bildungsgewerkschaft GEW, die wiederum mit der türkischen Bildungsgewerkschaft Egitim-Sen vernetzt ist. Die GEW Bayern startete im März einen Solidaritätsaufruf mit den entlassenen Wissenschaftler_innen in der Türkei, der unter anderen vom Philosophen Jürgen Habermas und dem Linguisten Noam Chomsky unterstützt wird.
„Wir fordern, dass deutsche Bildungs- und Wissenschaftseinrichtungen ihre Zusammenarbeit mit türkischen Einrichtungen einfrieren, die die staatlichen Repressalien unterstützen“, sagt Kıvılcım. Ausschließlich solche Arrangements sollen fortgesetzt werden, von denen Studierende profitieren, etwa der Erasmus-Austausch.
Nach 12 Stunden ist der symbolische Hungerstreik in Berlin beendet, doch in Ankara hungern Nuriye Gülmen und Semih Özakça noch immer, weil es scheinbar ihr letztes Instrument bleibt, um Gerechtigkeit einzufordern.