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Wir wollen das Meer sehen #FreeDeniz

100 Tage

„Glauben Sie nicht, dass die Haft auf einen Ort beschränkt ist.“ Dilek Mayatürk kann ihren Mann Deniz Yücel erst seit kurzem in Haft besuchen. Eine Anklage.

DILEK MAYATÜRK, 2017-05-24

Heute ist der hundertste Tag von Deniz' Unfreiheit. Ein weiterer Strich im Kalender der Unwägbarkeit … Es ist jetzt hundert Tage her, dass Deniz am 14. Februar aus freien Stücken zur Polizei ging, um dort seine Aussage zu machen. Hundert Tage sind es einschließlich einer dreizehn Tage währenden Zeit in Polizeigewahrsam. Seit hundert Tagen fehlt er mir.

Die größte Gemeinsamkeit zwischen drinnen und draußen besteht darin, dass man die Tage zählt. Aber das ironische an der Sache ist, dass man ab einem bestimmten Tag nicht mehr abwärts zählen kann. Die automatische Uhr im Kopf fragt nicht mehr: Wie viele Tage sind es noch? Sie fragt: Wie viele Tage sind es jetzt schon, dass unsere Lieben ohne Grund, ohne Recht, ohne Anklageschrift ihrer Freiheit beraubt werden? Das geht so jeden Tag, jeden Morgen.

Die inhaftierten Journalisten und ihre Angehörigen sind überglücklich, wenn nach Monaten, endlich, eine Anklageschrift kommt. Weil sie dann zumindest wissen, wann die Verhandlung stattfinden wird. Manchmal wenden wir, die Ungeübten, uns an das Energiebündel Yonca, die Frau des Journalisten Ahmet Sik, der schon zum zweiten Mal verhaftet ist, weil „du ja so erfahren bist, Yonca“. Das zeigt, wie viele Absurditäten unser Leben jetzt prägen.

Drinnen und draußen – das bedeutet auch, dass man ein Buch über die Absurditäten des eigenen Lebens schreiben könnte. Drinnen und draußen heißt gemeinsames beharrliches Warten darauf, dass die verrosteten Mühlen der Justiz wieder in Gang kommen. Noch einmal: Ich erwarte keine Gnade, sondern eine Anklageschrift. Aber ich habe noch eine weitere Zähluhr. Sie zählt die Tage, die Deniz in Isolationshaft gehalten wird. Es sind jetzt 87 Tage. Das ist schon für sich ein Verstoß gegen die Menschenrechte.

Treffen, durch eine Glasscheibe getrennt

Die Isolation kann körperliche und psychische Schäden verursachen, deren Auswirkungen jederzeit unvermittelt auftreten können. Diese erzwungene Einsamkeit ist eine Form psychischer Folter. Drinnen und draußen bedeutet, dass man denselben Himmel mit unterschiedlichen Augen sieht; zu wissen, dass man zumindest unter demselben Himmel lebt, dass man denselben Himmel wie die Lieben sieht, wenn man aufblickt, egal wo man sich gerade befindet. Das macht es vielleicht etwas leichter. Aber wir sehen nicht denselben Himmel wie Deniz und die anderen inhaftierten Journalisten, keiner von uns. Deniz sieht den Himmel durch ein Gitternetz.

Er vergisst, was man draußen alles hat, aber man selber denkt beständig darüber nach, was denen da drinnen alles fehlt. Man denkt nicht nur daran, dass ihnen die Freiheit genommen wurde, dass sie grundlos eingesperrt wurden, sondern auch daran, dass ihnen drinnen die grundlegendsten Rechte genommen werden. Drinnen und draußen, das bedeutet, darauf warten, dass man einmal in der Woche durch eine Glasscheibe getrennt am Telefon miteinander sprechen kann, auf eine Stunde beschränkt.

Und auf das offene Treffen, das wegen des Ausnahmezustands nur alle zwei Monate stattfinden darf … Weil ich zuvor keine Erfahrungen als „Besucherin“ sammeln konnte, kann ich nur davon erzählen, was ich in jüngster Zeit gründlich gelernt habe: Nach Silivri fahren. Also an jenen Ort fahren, an dem Deniz seit 87 Tagen in Isolationshaft gehalten wird, ohne dass dafür ein Grund angeführt wird. Er wird beschuldigt, Propaganda für Terrororganisationen betrieben und Feindschaft und Hass im Volk verbreitet zu haben. Als Belege werden lediglich Artikel und Interviews genannt, die zweifelsfrei zu seiner journalistischen Tätigkeit gehören und die nach dem türkischen Presserecht verjährt wären. Zudem sind einige der Übersetzungen, die der Staatsanwalt vorgelegt hat, auch noch fehlerhaft.

„Montags blutet mir das Herz“

Der Weg nach Silivri ist nicht von Rosen gesäumt. Auf diesem Weg durchlebt man tausend und ein Gefühl gleichzeitig. Die Seele gerät aus dem Ruder, vor Aufregung, vor Sehnsucht, durch den Stress, der zu diesem Weg gehört, während man diese Kontrollen, die Iris-Scans und Drehkreuze passiert, die man hinter sich bringen muss, um den Menschen zu erreichen, den man sehen will.

Während ich jeden Montag Stufe für Stufe diesen Weg zu Deniz‘ Zellenblock hinter mich bringe, bohrt sich jeder einzelne Zaun, den ich dabei passiere, in mein Herz. Und die Woche bis zu unserem nächsten Wiedersehen verbringe ich dann damit, mir diese Drähte wieder aus dem Herzen zu ziehen. Montags blutet mir das Herz, die restliche Woche bluten meine Hände. Stellen Sie sich vor, Sie müssten das jede Woche tun. Seine Wochen so verbringen – das bedeutet es, draußen zu sein.

Nach einer Stunde, die man durch eine schallisolierte Scheibe getrennt und über ein Telefon verbunden verbracht hat, wenn diese begrenzte Zeit vorbei ist, dann ertönt ein Signal, dass man Abschied nehmen muss. Drinnen und draußen bedeutet, dass man sich am Ende der Besuchszeit zuwinkt und sich umdreht und das aufgesetzte Lächeln plötzlich erlischt. Glauben Sie nicht, dass die Haft auf einen Ort beschränkt ist. Es ist ein Prozess, in dem auch um diejenigen, die draußen warten, ein Zaun gezogen wird, bis in ihre Träume hinein.

Niemals die Sprache des Hasses annehmen

Wenn das draußen schon so ist – versuchen Sie sich vorzustellen, wie es drinnen ist. Dieses Alleinsein hinter der Gefängnistür, die sich nie öffnet und nur durch den Besuch eines Anwalts, eines Abgeordneten oder eine Stunde wöchentlich von der Familie durchbrochen wird. Stellen Sie sich diese Isolation vor. Das bedeutet es, drinnen zu sein. Deniz ist seit hundert Tagen in Gefangenschaft. Weit entfernt von denen, die er liebt, und von seiner geliebten Arbeit. Ich bin seit hundert Tagen draußen.

So schön wie das Leben für einen Fisch auf dem Trockenen ist, so schön ist es für mich seit hundert Tagen, draußen zu sein. Aber draußen sein bedeutet auch, dass man mit den Angehörigen und Ehepartnern der anderen inhaftierten Journalisten eine enorme Solidarität aufbaut. Ganz gleich, ob man drinnen ist oder draußen – es bedeutet, dass man aus dem Gefühl, im Recht zu sein, noch geradliniger wird.

Ich bin begeistert von Deniz' starker Haltung, die sogar mir noch Kraft verleiht, so wie ich gestern, heute und auch morgen stolz darauf sein werde, dass er ein Journalist ist, der seine Arbeit richtig macht. Ich werde niemals die Sprache des Hasses annehmen, denn wenn man im Recht ist, bringt das eine gewisse Haltung mit sich. Wenn Deniz immer noch stark und aufrecht ist, obwohl er ohne Anklageschrift und ohne Grund in Isolationshaft gehalten wird, dann liegt das daran.

Aus dem Türkischen von Ogün Duman

Zum 100. Tag der Gefangenschaft von Deniz Yücel erscheint dieser Text gleichzeitig bei Spiegel Online, WELT, Zeit Online sowie den Homepages der Deutschen Welle und von Reporter ohne Grenzen.

DILEK MAYATÜRK, 2017-05-24
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