Elf Mädchen kamen beim Wohnheim-Brand bei Adana ums Leben. Die Notausgänge waren verschlossen. Der Prozess gegen die Heimleitung beginnt heute.
Es ist der 29. November 2016, gegen 19 Uhr: Die 4- bis 16-jährigen Bewohnerinnen des Mädchenwohnheims in Aladağ (Provinz Adana) sind auf ihren Zimmern, um sich auszuruhen. Es herrscht eisige Kälte draußen. Im ersten und zweiten Stock des Gebäudes kommen Funken aus der Sicherung.
Wenige Zeit später bricht ein Brand aus, bei dem 11 Kinder und eine Wohnheim-Angestellte sterben. Die Notausgänge des Gebäudes sollen verschlossen gewesen sein. Der Prozess, der die Verantwortung der Wohnheimleitung für die Katastrophe verhandeln soll, beginnt an diesem Dienstag am Gericht von Adana-Kozan.
Dem Betreiber des Wohnheims, der einflussreichen sunnitischen Süleymanci-Sekte, wird vorgeworfen, vor und nach dem Brand großen Druck auf die Familien der jungen Bewohnerinnen ausgeübt zu haben. Interessant ist der Fall auch, da die nach dem Putschversuch im vergangenen Sommer und der darauf folgenden Entlassungswelle im öffentlichen Dienst frei gewordenen Stellen teilweise durch Anhänger der Süleymanci besetzt worden sein sollen.
Laut Aussagen der Familienanwälte stammten viele Mädchen aus umliegenden Dörfern, in denen es keine weiterführenden Schulen gab, und wo ein harscher Winter die Häuser vieler Familien beschädigt hatte. Weil die Kinder unter diesen Umständen nicht unterrichtet werden konnten, wollten ihre Familien sie in einem Mädchenwohnheim in der nächstgelegenen Kleinstadt Aladağ unterbringen.
Das ansässige Bildungsamt habe sie an das Wohnheim der Süleymanci-Sekte verwiesen. Viele Eltern seien zuerst dagegen gewesen, weil sie sich ein staatliches Wohnheim für ihre Töchter wünschten. Doch das staatliche Mädchenwohnheim sei aufgrund von Baumängeln abgerissen worden. Und so stellte sie das Bildungsamt vor die Wahl: „Entweder kommen die Kinder im Gemeinde-Wohnheim unter, oder ihr mietet private Wohnungen für sie an.“
Daraufhin blieb den größtenteils ökonomisch schwachen Familien nichts anderes übrig, als ihre Kinder in jenem Wohnheim unterzubringen, das als Nachhilfe mehr Religionsunterricht als Grundbildung anbot. Von Beginn habe es viele Beschwerden von Seiten der Kinder gegeben, so die Familienanwälte. Doch das Wohnheim habe den in der Folge angereisten Eltern keinen Zutritt ins Heim gewährt. Vor allem den Vätern, mit der Begründung, dies sei ein Mädchenwohnheim.
Die Mädchen seien gezwungen worden, den Abwasch zu machen und Toiletten zu putzen. Auch seien die Mahlzeiten nicht ausreichend gewesen. So hätten sich die Schülerinnen oft heimlich hinaus gestohlen, um Chips und Kekse zu kaufen. Dies war auch der Grund dafür, dass während des Brands die Notausgänge verschlossen waren – damit sich die Schülerinnen nicht mehr heimlich aus dem Heim schleichen konnten. Hausordnung ging hier vor Sicherheit.
Doch fragt man sich: Warum unternehmen die Wohnheim-Angstellten nichts in dem Moment, in dem das Feuer ausbricht? Anwalt Gökhan Çelik, der einige Familien der zu Tode gekommenen Schülerinnen vertritt, erklärt es wie folgt:
„Es gab im Wohnheim verantwortliche Aufsichtspersonen. Laut Zeugenaussagen waren diese Angestellten zum Zeitpunkt des Brandes im Nebengebäude, um gemeinsam mit ein paar Besucherinnen den Koran zu lesen. Aus diesem Grund habe man die Kinder an jenem Abend auch schon früher auf ihre Zimmer geschickt.“
Anwohner*innen, die den Brand sehen, versuchen das Feuer eigenhändig zu löschen. Im Gebäude bricht Panik aus. Einige Schülerinnen schaffen es, frühzeitig das Gebäude über den Haupteingang zu verlassen. Die Übrigen rennen in die oberen Stockwerke, um sich vom Feuer zu entfernen. Sie nähern sich den Fenstern. Die, die sich trauen, springen herunter auf die von Anwohner*innen aufgespannten Decken.
Die meisten Kinder verletzen sich beim Runterspringen. Die Feuerwehr schafft es von der 150 Meter entfernten Wache zum Wohnheim, erst als das Feuer schon im dritten Stock angekommen ist. Laut diversen Aussagen, wurden die Griffe der Notausgangstüren, die zur Feuertreppe führen, nie gefunden. Die Kinder aus dem dritten Stock schaffen es nicht mehr zu fliehen. Elf Schülerinnen und eine Angestellte verlieren ihr Leben aufgrund von grober Fahrlässigkeit.
Die Apothekerin Özlem Dündar aus Adana, die aus eigenem Antrieb zum Krankenhaus eilt, um den verletzten Kindern beizustehen, sagt:
„Wir erfuhren, dass die Verletzten und Leichen nach Adana gebracht wurden, weil es in Aladağ kein Krankenhaus gibt. Ich habe recherchiert, wie viele Kinder in welchem Krankenhaus sind, und habe vom ersten Tag an regelmäßig die Verletzten und ihre Angehörigen besucht. Nach den Gesprächen mit den Familien kam ich zu dem Schluss, dass dieses Ereignis nicht nur ein Unfall, eine Fahrlässigkeit, ein Brand war. Ich fand heraus, dass das gesamte Schulsystem vom Staat an Sekten übergeben wird.“
Einem Artikel des Nachrichtenportals diken vom 16. Januar 2017 zufolge, wendet sich der Wohnheim-Direktor Mahmut Deniz zwei Tage nach dem Brand an die Staatsanwaltschaft, mit der Bitte, die 35 Kilogramm Fleisch, die sich im Tiefkühler des Wohnheims befanden, zurück zu bekommen. Noch am selben Tag ordnet die Staatsanwaltschaft die Rückgabe an, die 35 Kilogramm werden dem Anwalt von Mahmut Deniz übergeben, weil Deniz festgenommen wird.
Was sich währenddessen im Krankenhaus ereignet, erzählt die Apothekerin Dündar so: „Wir standen alle unter Schock. Es gab Kinder, die vom Rauch fast erstickt waren, es gab Verbrennungen, gebrochene Beine und Kieferknochen. Diese Kinder waren aus dem dritten Stock gesprungen.“
Im Mai endeten die Nachforschungen zum Brand. Der Prozess, in dem der Direktor, der Wohnheimleiter und der Vereinsvorsitzende angeklagt sind, beginnt am Dienstag.
Familienanwalt Celik erzählt, wie die Angehörigen der toten und verletzten Kinder im Vorfeld des Prozesses massiv unter Druck gesetzt wurden: „Die Familien wurden während der Beerdigungen und Krankenhausaufenthalte der verletzen Kinder durch Mitglieder des Süleymanci-Ordens kontaktiert. Wiederholt wurde den Familien durch die Anwälte des Ordens, durch geistliche Oberhäupter und Mittlerpersonen suggeriert, dass es besser für sie wäre, ihre Klagen zurückzuziehen.
Die betroffenen Familien hörten Sätze wie: der Vorfall sei gottgegeben, das sei eben das Schicksal der Kinder gewesen, die inhaftierten Personen hätten frei zu kommen. Die Familien der verletzten versuchte man mit kostenlosen Unterkünften und vollfinanzierten Stipendien an andere, von den Süleymanci-Orden betriebenen Schulen zu ködern. Wenige Familien zogen daraufhin ihre Klagen zurück.“
Melda Onur, Vorsitzende des „Vereins für soziale Rechte“(SHD), zufolge, wollten einige der verletzten Mädchen nach dem wohltuenden Krankenhausaufenthalt nicht mehr zurück nach Hause. Sie planten, zu studieren und zu arbeiten, am liebsten als Lehrerin oder Ärztin. Und die Familien der Mädchen? Die meisten von ihnen wollen den eingeschlagenen Weg zu Ende zu gehen: ihre Klagen nicht zurückziehen und ihren Töchtern eine gute Ausbildung ermöglichen.