Die AKP-Regierung und Erdoğan zittern vor einem erneuten Protest des Ausmaßes von “Gezi“, meint taz.gazete-Autor Erk Acarer.
Ein kleiner Tropfen brachte das Fass zum Überlaufen: Der Umstand, dass der Gezi- Park, eine der letzten Grünflächen im Zentrum Istanbuls, bebaut werden sollte. Im Juni 2013 gingen gegen diesen Bau Millionen Menschen auf dem Taksim-Platz. Vor allem Frauen und Jugendliche waren bei den Protesten ganz vorne dabei. Es war einer der größten und langatmigsten zivilen Aufstände in der türkischen Geschichte, nicht nur in Istanbul: in 80 von 81 Städten kam es zu Protesten. Erdoğans Regierungsmacht geriet ins Wanken.
im Sommer 2013 befindet sich die Türkei in einer unproduktiven Dauerschleife. Gegen kleinste Demonstrationen werden unverhältnismäßige Maßnahmen ergriffen. Je mehr die Regierung neuen Widerstand in der Größenordnung von Gezi fürchtet, desto härter geht sie gegen das Volk vor. Die Angst unter den Menschen ist größer geworden.
Als die AKP 2002 mit dem Versprechen einer modernen Türkei, einer Hoffnung auf eine bessere Zukunft, einer Auseinandersetzung mit der dunklen Geschichte des Landes an die Macht kam, gab es in großen Teilen der Bevölkerung erhebliche Zweifel. Nicht lange dauerte es, bis die Regierungspartei, die der Tradition der Muslimbrüder nahesteht, die dem politischen Islam innewohnende Heuchelei offen legte.
Die Eingriffe in die Demokratie, Einmischungen in den Lebensstil, eine nationalistisch-religiöse Rhetorik und die frauenverachtende Haltung der Regierung führte dazu, dass die Opposition stetig wuchs. Nie haben Erdoğan und die AKP versucht, einen Kompromiss mit den unzufriedenen Bürger*innen zu suchen. Stattdessen wurden jene, die ihre Stimme erhoben und ihre Rechte einforderten, direkt zu Feinden erklärt.
Immer wenn Erdoğan sich bei einer Auseinandersetzung mit dem Volk zum Gewinner erklärte, hätte er wissen müssen, dass sein illusorischer Sieg die Inspiration für einen neuen Protest liefern würde. Gezi war und ist die Inspirationsquelle aller folgenden Widerstände. Wenn der damalige Ministerpräsident und heutige Staatspräsident die Gezi-Bewegung immer noch explizit an den Pranger stellt, zeigt sich so nur seine Argwohn vor einer neuen Bewegung gegen seine Politik.
Die AKP-Regierung spielt mit den Staatsmechanismen, als seien sie Teigmasse. Damit diese Masse in die gewünschte Form passt, hat man auf die Forderungen der Bevölkerung mit polarisierender Politik geantwortet. Werte wie Demokratie, Gleichheit, Justiz und Laizismus sind zunehmend in die Ferne gerückt und werden ignoriert.
In den vergangenen vier Jahren ging der Aufstand gegen das Ein-Mann-Regime weiter. Das Präsidialsystem, das Erdoğan mit dem Referendum am 16. April 2017 installierte, stößt immer noch auf Widerstand. Je mehr Gewalt von den Sicherheitskräften ausgeht, desto fester klammert sich die Gesellschaft an ihre Forderung nach Frieden und Gerechtigkeit.
Das aktuellste Beispiel hierfür ist der Hungerstreik der per Notstandsdekret entlassenen Akademikerin Nuriye Gülmen und des Lehrers Semih Özakca. Der Streik mündete in Protesten und in der Folge kam es nicht nur zu Verhaftungen und Polizeigewalt. Das Menschenrechtsdenkmal von Ankara, der Demonstrationsort, wurde gesperrt, und die dorthin führenden Straßen ebenfalls.
Aus Angst. Nach über zweihundert Tagen friedlichen Widerstands wird die Türkei Zeuge, wie zwei hungerstreikende Menschen für ihre sehr einfache Forderung – ihre Jobs zurück zu bekommen – verhaftet werden.Der Geist von Gezi kreist auch vier Jahre später noch über dem Staatspalast.
Nachdem beim Verfassungsreferendum im April das Wahlergebnis durch neue Regeln verfälscht wurde, gingen zahlreiche Menschen auf die Straße, um zu rufen: “Nein, es ist nicht vorbei.“ Der Geist von Gezi ist heute nicht mehr am Taksimplatz, sondern auch in Ankara. Ganz in der Nähe von Erdoğan. So schnell wird er die Angst vor Gezi nicht mehr los.