Die türkische Opposition ist strikt gegen den angekündigten Abbruch der Beitrittsgespräche für eine Eu-Vollmitgliedschaft des Landes
Zum ersten Mal in der Geschichte der beiden Länder ist ein Dutzend deutscher Staatsbürger – unter ihnen zwei Journalisten und Menschenrechtler – wegen Terror- und Spionagevorwürfen in der Türkei im Gefängnis. Zum ersten Mal wirft eine türkische Regierung Deutschland vor, Putschisten zu verstecken.
Und noch nie hat eine türkische Regierung versucht, derart direkt in die deutschen Wahlkämpfe einzugreifen, wie mit dem Aufruf des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan an türkeistämmige Deutsche, bestimmten Parteien in Deutschland keine Stimme zu geben.
Doch wer unter den Deutschtürken der türkischen Opposition nahesteht, muss auch an das Jahr 2015 gedacht haben, während er das Fernsehduell zwischen Angela Merkel und Martin Schulz verfolgte. Damals, vor fast zwei Jahren wurde die Veröffentlichung des EU-Fortschrittsberichts zum Beitrittskandidaten Türkei auf die Zeit nach den türkischen Parlamentswahlen verschoben. Sicher war aber, dass das Papier der Regierung ein wenig schmeichelhaftes Zeugnis ausstellen würde.
Während die Opposition sich zu jener Zeit fragte, warum der Bericht immer noch nicht veröffentlicht wurde, haben weder die deutsche Kanzlerin noch der damalige EU-Parlamentspräsident Martin Schulz sich dazu geäußert. Seinerzeit saßen noch keine deutschen Staatsbürger wie der derzeitige WELT-Korrespondent Deniz Yücel, die Übersetzerin Meşale Tolu und der Menschenrechtler Peter Steudtner in Untersuchungshaft.
Aber damals saßen 14 türkische Journalisten in ihrer Heimat hinter Gittern, und hatte schon damals über einen Inhaftierten öffentlich sein eigenes Urteil gefällt: „So lasse ich ihn nicht gehen.“ Doch noch 2016 forderte Schulz in etlichen Interviews, die Gespräche zwischen der EU und der Türkei dürften auf keinen Fall abgebrochen werden.
Wie unterschiedlich deutsche Spitzenpolitiker die Themen Rechtsstaat und EU-Beitritt der Türkei miteinander verknüpfen, vergisst man nicht so leicht in der türkischen Opposition. Denn innerhalb dieser zwei Jahre ist viel passiert. Die Aussage mit dem größten Neuigkeitswert bei diesem TV-Duell war jene von Martin Schulz, der bis dato immer dafür war, die Beziehungen zur Türkei nicht zu beeinträchtigen, konstruktive Politik zu betreiben und die Opposition im Lande nicht allein zu lassen, nun aber plötzlich mit Leidenschaft verkündete, die EU-Verhandlungen abzubrechen, wenn er Kanzler werden würde. Und dass Bundeskanzlerin Angela Merkel ihm darin zunächst zögerlich, dann aber deutlich folgte.
Der türkische Europaminister Ömer Çelik bezichtigte die Kanzlerin und den Kandidaten, mit ihren Aussagen erneut eine „Berliner Mauer“ zu errichten. Das Problem liege keinesfalls in der Türkei. In Wahrheit seien die offene Ankündigung, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei abzubrechen und die EU-Vorbeitrittshilfen einzufrieren, ein Anzeichen für eine Krise der Europäischen Union.
Aufseiten der türkischen Opposition ist man ebenfalls unglücklich über die Äußerungen beim Duell – aber aus ganz anderen Gründen. Merkel und Schulz seien in „die Falle des verehrten Staatspräsidenten getappt“, sagt etwa Öztürk Yılmaz, stellvertretender Generalsekretär für Außenbeziehungen der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP, der größten Oppositionspartei in der Türkei.
Die Kanzlerin wie ihr Herausforderer würden ihre persönlichen Differenzen mit Erdoğan auf die gesamte Türkei übertragen, meint der ehemalige Diplomat Yılmaz. Sie betrieben eine Politik, die sich zwar gegen den Staatspräsidenten richte, deren Konsequenzen aber die türkische Bevölkerung tragen müsse.
Die EU habe doch ohnehin seit Beginn der Verhandlungen Vorbehalte gegen den Beitritt der Türkei gehabt, so Yılmaz, und sich dabei mit Vorwänden wie dem Zypernkonflikt oder den Armenierfrage herausgeredet. „Heute geht es zum ersten Mal um echte Ablehnungsgründe“, so Yılmaz.
„Die AKP-Regierung hat mit dem Referendum vom 16. April die Demokratie in der Türkei abgeschafft und sich auf diese Weise vollends von der Umsetzung der Kopenhagener Demokratiekriterien für EU-Beitritskandidaten entfernt. Erdoğan hat der EU in die Hände gespielt.“
Die Türkei sollte aber nicht allein anhand der Regierungshaltung zur EU bewertet werden. In der Türkei gebe es eine starke Opposition, die mit der großen Zahl von Neinstimmen beim Referendum ihre Stärke gezeigt habe. Unter einer Isolation der Türkei würden die Opposition und ein Großteil der türkischen Bevölkerung leiden. Er werde dabei der einzige Gewinner sein, mein Yılmaz.
Der Präsident werde die deutsche Position für seine innenpolitischen Zwecke nutzen, die Türkei als Opfer dieser Politik darstellen, und selbst Profit daraus schlagen. Nicht zu vergessen, dass seine Partei, die islamische AKP derzeit ohnehin keinen Beitritt zur EU anstrebe.
Aber auch wirtschaftliche Sanktionen könnten Wasser auf die Mühlen von Erdoğan sein, meint Yılmaz. „Embargos stärken autokratische Regime. „Die Rechnung zahlt immer die Bevölkerung“, so Yılmaz. Aber ohnehin schätzt der CHP-Abgeordnete, dass deutsche Unternehmen den türkischen Markt nicht würden verlassen wollen. Darum würden sie sicher Druck auf die Regierung in Berlin ausüben, keine allzu scharfen Sanktionen zu forcieren.
Die CHP war in letzter Zeit immer wieder ein Angriffsziel für Erdoğan, der die Partei beschuldigt, absichtlich Chaos stiften zu wollen und die die Gülen-Bewegung zu unterstützen, der Erdoğan die Urheberschaft am Putschversuch vom Juli vergangenen Jahres anlastet.
So wurde etwa der CHP-Abgeordnete und ehemalige Journalist Enis Berberoğlu zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Ihm wird vorgeworfen der oppositionellen Zeitung „Cumhuriyet“ Videomaterial zugespielt zu haben, das zeigt, wie der türkische Geheimdienst Waffen nach Syrien schmuggelt.
Die prokurdische HDP, deren Ko-Vorsitzende Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ sich neben zehn weiteren ihrer Abgeordneten in Haft befinden, ist für mehr Härte als die CHP. Auch wenn sie den Beitritt nach wie vor unbedingt will. Hişyar Özsoy, Mitglied in der Parlamentskommission für Außenbeziehungen, betont, dass die HDP unbedingt und mit Nachdruck für einen EU-Beitritt der Türkei ist.
Trotzdem hätte die EU viel früher mit dem Abbruch der Verhandlungen drohen oder über wirtschaftliche Sanktionen nachdenken müssen: „Die EU hat mit ihrer steten Beschwichtigungspolitik in den vergangenen drei bis vier Jahren dazu beigetragen, dass sich die Türkei zu einem nahezu diktatorischen Regime entwickelt hat.“