Am vergangenen Montag wurde klar: die Türkei erzielte im zweiten Quartal ein Wirtschaftswachstum von 5,1 Prozent. Können diese Zahlen stimmen?
Im Dezember 2016 führte das Türkische Institut für Statistik (TÜİK) eine neue Methode zur Wachstumsberechnung ein. Laut Institut entspreche die neue Methode den Eurostat-Regeln, welche von dem statistischen Amt der Europäischen Union herausgegeben werden. Seither befindet sich die Türkei in einer Phase des großen 'Als Ob’. Nach der neuen Berechnungsmethode sieht es so aus, als ob die Investitionen höher und das Nationaleinkommen größer sei.
Zudem sei das Pro-Kopf-Einkommen gestiegen, und zwar in einer Größenordnung der wirtschaftlich einiger rasant anwachsenden asiatischen Länder. Die Zahlen des TÜİK lassen glauben, dass die Türkei über hohe Investitionen verfüge und effektiv spare. Das passiert aber nur auf dem Papier. Ökonomen haben längst darauf hingewiesen, dass die neue Methode Ungereimtheiten aufweist und das TÜİK aufgefordert, in den vorliegenden Reihen Korrekturen vorzunehmen.
Mit einem Wachstumsbeitrag von 2,9 Prozent machen Investitionen rund 30 Prozent des Nationaleinkommens aus. Mehr als die Hälfte dieses Postens bezieht sich auf Investitionen im Baubereich. Das TÜIK führt an, dass der Bausektor seit dem Quartal 2013 zum ersten Mal wieder so schnell gewachsen sei. Und die Investitionen in diesem Bereich hätten mit dem zweiten Quartal 2017 eine Zunahme von 25 Prozent (im Vergleich zum Vorjahr) erreicht. Demgegenüber haben die Investitionen in Maschinen und Arbeitsgeräte abgenommen und machen nur ein Drittel der Gesamtinvestitionen im Baubereich aus.
Es wäre aber genau diese Form von Investitionen, die nachhaltige Beschäftigung und Wachstum ermöglichen würden. Die Zahlen des TÜİK verhüllen diesen unbequemen Umstand. Tatsächlich führt das Institut auch an, dass die Beschäftigung im Bausektor nach dem Baubeschäftigungsindex im zweiten Quartal um 2,1 Prozent abgenommen habe. Spätestens hier drängen sich Fragezeichen zum 25-prozentigen Wachstum bei den Investitionen auf.
Erinç Yeldan, Professor an der Bilkent Universität in Ankara, zweifelt an der Korrektheit der Zahlen. Für ihn als Ökonomen seien sie kaum zu gebrauchen. Die Regierung habe mit der Einführung der neuen Berechnungsmethode nur kurzfristigen Schaden abgewendet, meint er. Verschiedene Daten wiesen qualitative und quantitative Ungereimtheiten auf. Das Nationaleinkommen und seine Bestandteile werde nur noch auf Grundlage aktueller Preise angegeben. Dies führe dazu, dass Begriffe wie reale Produktion, Realinvestitionen und realer Konsum nicht mehr vorkommen. Für Ökonomen seien aber reale Zahlen wichtig, um das Verhältnis von Produktion zu Einkommen für den Durchschnittsarbeiter, wie die Einkommensverteilung, die Rentabilität von Investitionen oder den Außenhandel zu messen. Dank der jetzigen TÜİK-Methode sei es nun viel schwerer, diese Berechnungen vorzunehmen.
Yeldan geht davon aus, dass die Investitionen mit den Zahlen aus dem Bausektor aufgeblasen wurden. “Der Baubereich ist für den Außenhandel nicht zugänglich, er bringt keine Devisen ein. In dieser Form ist wirtschaftliches Wachstum nicht nachhaltig.“
Der Wirtschaftswissenschaftler betont, dass der industrielle Produktionsindex, die von der türkischen Regierung erstellte Household Labor Force Survey und die Daten über öffentliche Ausgaben in der nationalen Berechnung qualitativ nicht miteinander übereinstimmen: “Es sieht nur so aus, als ob die Industrie wachse. Aber in der Industrie gibt es keine Arbeitsplätze. Den eigentlichen Beschäftigungszuwachs haben wir im Dienstleistungssektor, laut Statistik seien diese Stellen aber gerade am Abnehmen.“
Ümit Akçay ist Gastdozent an der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin. Er geht davon aus, dass die Vertrauenswürdigkeit der Indikatoren für die türkische Wirtschaft seit dem Update des TÜİK gesunken sei. “Grund dafür ist, dass seit diesem Update in den vom TÜİK herausgegebenen Zahlen Unklarheiten zu finden sind. Gerade die jüngsten Zahlen bedürfen einiger Aufklärung. Ich möchte darauf hinweisen, dass es Anzeichen für eine gefährliche Entwicklung ist, wenn die Vertrauenswürdigkeit der Daten zur Debatte steht.“
Jenseits der Verlässlichkeit der Daten steht für Akçay aber die Tatsache im Mittelpunkt, dass ein Haupttrend der türkischen Wirtschaft fortgesetzt wird: “Das Wachstum ist der Dynamik im Bausektor geschuldet, der sich recht lebendig zeigt- während die Investitionen in Maschinen und Arbeitsgeräte weiterhin an Tempo verlieren. Neu ist, dass im 2.Quartal 2017 die Außenhandelszahlen gewachsen sind. Das liegt aber insbesondere daran, dass sich Europa als wichtiger türkischer Exportmarkt leicht erholt hat. Zusätzlich bleiben Fragen offen: wie effektiv der von der öffentlichen Hand aufgesetzte Kreditgarantiefonds ist und wie lange diese öffentliche Unterstützung geleistet werden kann.“
Der dritte große Posten in den Wachstumszahlen des TÜİK ist dsagt Karpowitz.er Nettoexport. Der Export wächst auf Jahresbasis um 10,5 Prozent, während der Import nur um 2,3 Prozent wächst. Damit trägt der Außenhandel zum Wachstum bei. Im Monat Juni betrug der Anteil der Europäischen Union am Außenhandel der Türkei knapp 50 Prozent. Deutschland kommt ganz vorne unter den Ländern, in die aus der Türkei exportiert wird – und zwar mit mehr als 3,5 Milliarden Dollar im zweiten Quartal.
Im März wurde mit dem Kreditgarantiefonds (KGF) die öffentliche Unterstützung für Kredite ausgebaut. Oft wird auf die positiven Effekte des KGF auf noch kommende Investitionen verwiesen. Die Zahlen zeigen allerdings, dass KGF-unterstützte Kredite anscheinend vor allem in die Bauwirtschaft fließen. Welchen Anteil am Wachstum der KGF nun hat ist völlig undurchsichtig.
Die öffentlichen Ausgaben – als eine der wichtigsten Lokomotivkräfte fürs Wachstum 2016 – sind den neuen Zahlen des TÜİK zufolge um 4,3 Prozent geschmälert worden. Im Berichtszeitraum ist das Defizit des öffentlichen Bereiches um 12,6 Milliarden Türkische Lira gestiegen. Dessen Nettoverschuldung liegt bei 13,6 Milliarden TL. Eine weitere Unklarheit, die in den Veröffentlichungen auftaucht.
Akçay kritisiert die unklare Stoßrichtung der volkswirtschaftlichen Steuerung in der Türkei: “Die Wirtschaftspolitik basiert nicht auf einer festgelegten Strategie. Dadurch wächst die Abhängigkeit der türkischen Wirtschaft vom hereinkommenden ausländischen Kapital und höhlt die industrielle Produktion strukturell aus. Weder in den veröffentlichten Wachstumszahlen noch in den einzelnen Bestandteilen beobachten wir Entwicklungen, die einen Weg aus diesem Teufelskreis weisen könnten.“
Die Commerzbank, hat bereits erklärt, dass die offiziellen Wachstumszahlen der Türkei “äußerst zweifelhaft“ seien und die Möglichkeit bestehe, dass sie politisch manipuliert worden seien. Unter dem Titel “Turkey – are you kidding me?“ hat Lutz Karpowitz, ein Stratege für Emerging Markets bei der Commerzbank, die jüngsten Zahlen in einem Thesenpapier analysiert.
Besonders auffällig findet er, dass Anlageinvestitionen vom April auf den Juni um 6 Prozent gestiegen seien. Überprüfbare internationale Zahlen sprächen da eine andere Sprache. Der IWF beispielsweise geht davon aus, dass ausländische Direktinvestitionen im ersten Halbjahr um 8 Prozent zurückgegangen seien. Ein Wirtschaftswunder sei der Türkei zu wünschen. Aber, so Karpowitz: „Das Wirtschaftswunder in der Türkei passt aber so gar nicht zur aktuellen Situation.“