Im Prozess gegen die hungerstreikende Akademikerin Nuriye Gülmen und den Lehrer Semih Özakca, entschied das Gericht, den Lehrer freizulassen
Die Literaturwissenschaftlerin Nuriye Gülmen und der Lehrer Semih Özakça sind zwei von vielen, die nach dem vereitelten Putschversuch mit Dekreten aus dem öffentlichen Dienst entlassen wurden. Gegen ihre Entlassungen protestieren die beiden seit 346 Tagen, seit 226 Tagen im Hungerstreik. Seit 150 Tagen befinden sie sich in Haft. Am Freitag entschied das Gericht, Semih Özakça vorläufig freizulassen.
Die beiden Angeklagten wurden verhaftet, weil ihr Protest nicht weiter in der Öffentlichkeit sichtbar sein soll. Ihnen wird vorgeworfen, Mitglied der in der Türkei verbotenen Organisation DHKP-C zu sein. Seit dem 23. Mai 2017 befinden sich Gülmen und Özakça nun in Haft. Weil ihr Gesundheitszustand sich zunehmend verschlechterte, werden sie seit 84 Tagen in einem Krankenhaus in Ankara festgehalten. Angehörige und Freunde sorgen sich über eine eventuelle Zwangsernährung, die bleibende Schäden hinterlassen könnte. Bei den bisherigen Prozesstagen am 14. und 28. September ließ das Gericht sie nicht frei.
Vor dem dritten Prozesstag am 20. Oktober in Ankara traf die Polizei besondere Sicherheitsvorkehrungen. Zum Prozess wurde Semih Özakça in einem Rollstuhl gebracht. Im Gerichtssaal wurde der Lehrer unter Applaus empfangen. Nuriye Gülmen wurde mit Verweis auf ihren gesundheitlichen Zustand nicht gestattet, an der Sitzung teilzunehmen. Die Staatsanwalt wollte Gülmen bereits am 16. Oktober vernehmen. Die Literaturwissenschaftlerin lehnte das aber ab.
Einen Zusammenhang mit Terror schaffen
Das Gericht wirft Gülmen und Özakça vor, ihren Hungerstreik auf Anweisung der Organisation DHKP-C begonnen zu haben. Angehört wird am heutigen Prozesstag eine Person namens Berk Ercan. Ercan soll Mitglied von DHKP-C gewesen sein. Die Verteidiger von Gülmen und Özakça betonten vor Gericht, dass diese Art von Zeugenbefragung dazu dienen soll, eine Verbindung zwischen den beiden Angeklagten und einer terroristischen Organisation herzustellen. Der Zeuge Ercan, der seit 2015 wegen Mitgliedschaft bei der Organisation DHKP-C verhaftet ist, sagte aus, dass er Kontakt zu Gülmen und Özakça gehabt habe, aber keine Informationen über den Hungerstreik habe.
Mahmut Tanal, der den Prozess als Jurist und Parlamentsabgeordneter der CHP beobachtet, kritisiert, dass mit Berk Ercan ein Geständiger als Zeuge befragt wird, der nichtmal persönlich vor Gericht erscheint, sondern per Videoübertragung aussagte. Zafer Kazan, einer der Anwälte von Gülmen und Özakça sagte: “Diesen Umgang mit Zeugenaussagen kennen wir schon von anderen manipulierten Prozessen.“
Freilassung gefordert
Der Anwalt Murat Yilmaz bemängelte die Befragung von “anonymen Zeugen“ und sagte vor Gericht: “Ist diese Person ein Zeuge oder ein Informant? Die Anklageschrift ist dermaßen leer, dass die Regierung nachträglich Belege an das Gericht schickt, auch nachdem der Prozess bereits begonnen hat. Die Staatsanwaltschaften in Ankara und Istanbul sowie die Sicherheitsbehörden haben aufgehört zu arbeiten. Sie sorgen sich nur noch darum, was sie der Anklage noch hinzufügen können. Sie erpressen Nuriye, geben ihr keinen Begleiter, sperren sie in Zellen ohne Tageslicht ein. Gülmen und Özakça fliehen nicht. Obwohl die Leitung der Haftanstalt und das Krankenhaus darüber berichten, dass sie sich in Lebensgefahr befinden, wird ihre Haft fortgesetzt. Lasst sie umgehend frei!“
Özakça skandalisierte vor Gericht die Anklageschrift gegen ihn: “Wir wollen nur unsere Arbeit zurück. In der Anklageschrift steht, dass ich nach Eskisehir gegangen sei. Dabei stamme ich aus dieser Stadt.“ Über den “anonymen Zeugen“ sagte Özakça: “Was er von sich gibt ist kein Geständnis, sondern Verleumdung. An dem Tag, an dem er mich gesehen haben will, war ich noch im Militärdienst.“
Keine konkreten Beweise
In seiner Verteilungsrede sagte Özakça weiter: “Es gibt keinerlei konkrete Vorwürfe oder Beweise. Mir wird einzig vorgeworfen, dass ich in der Yüksel Straße in Ankara eine Presserklärung gegeben habe. Sie haben mein Tagebuch, das ich im Gefängnis führe, als Beweismittel aufgenommen. Weil es sonst nichts gibt. Wir machen einen Hungerstreik, weil wir unsere Arbeit zurück haben wollen. Kein anderes Ziel haben wir. Ein Mensch braucht auch keine Organisation, um in den Hungerstreik zu treten. Wir haben alles versucht, um unsere Einstellungen zurückbekommenen. Dann haben wir uns für den Hungerstreik entschieden.“
Özakça beklagte die Repression gegen die Literaturwissenschaftlerin Gülmen und seine Person: “Egal wie entschieden wird, die Geschichte wird das nicht akzeptieren. Es gibt keine konkreten Beweise. Ich bin ein Lehrer. Glaubt mir, und nicht diesem Zeugen, der lügt.“ Applaudiert wurde Özakça abermals, als er seine Verteidigungsrede damit beendete, die Anwesenden aufzufordern, die Hoffnung nicht zu verlieren: “Dass unsere Träume sich bald in sonnige Tage verwandeln.“
Bevor das Gericht in Ankara ihr Zwischenurteil bekannt gab, sagte der Anwalt Ömer Faruk Eminağaoğlu: “In der Türkei ist es keine Straftat, in einen Hungerstreik zu treten. Hungerstreik ist Menschenrecht. Auch meine Mandantin Nuriye Gülmen wurde zu einem anderen Zeitpunkt per Videoübertragung befragt. Angeklagte außerhalb des Gerichts zu verhören ist nicht rechtmäßig.“
Angriff auf Unterstützer
Nach den Verteidigungen unterbrach das Gericht die Sitzung für Beratungen. Während der Pause kam es vor dem Gericht zu Auseinandersetzungen. Die Polizei musste eingreifen. Daraufhin wurde die Sitzung unter der der Anwesenheit von 100 Bereitschaftspolizisten fortgesetzt.
Das Gericht entschied in seinem Zwischenurteil, Semih Özakça vorläufig freizulassen, allerdings unter besonderen Sicherheitsvorkehrungen, mit elektronischen Fußfesseln. Für Nuriye Gülmen, die nicht zum Gericht gebracht wurde, entschied das Gericht die Fortsetzung der Haft. Anwälte und Gericht diskutierten anschließend über das Datum des nächsten Prozesstages, der letztlich am 17. November stattfinden soll.
Nach der Verhandlung sagte Esra Özakça, die Ehefrau von Semih Özakça, der taz: “Zuerst hat sich Semih gefreut, dann wurde er wieder traurig. Die Hälfte von uns ist drin geblieben. Unsere Freude ist nur halb. Ich hoffe, dass wir bei der nächsten Sitzung auch Nuriye raus bekommen.“