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Eine Illustration von Amnesty International: Menschenrechtler, die Terrorunterstützer sein sollen.

Menschenrechtler freigelassen

Nach zwölf Stunden Verhandlung lässt das Gericht acht Menschenrechtler frei, darunter Peter Steudtner. Der Prozess geht am 22. November weiter.

TAZ. GAZETE GÜLTEN SARI, 2017-10-26

Am Mittwoch hat in Istanbul die erste Anhörung im Büyükada-Prozess gegen elf Menschenrechtsaktivisten begonnen. Darunter sind die Direktorin der türkischen Sektion von Amnesty International, İdil Eser, und der deutsche Staatsbürger Peter Steudtner. Der Vorwurf: Unterstützung einer bewaffneten Terrororganisation. Nach dem knapp zwölfstündigen Verhandlungstag entschied das Gericht, acht der verhafteten Angeklagten freizulassen, darunter auch Steudtner.

Während eines Seminars zu Datensicherheit und Stressmanagement auf der Istanbul vorgelagerten Insel Büyükada hatte die türkische Polizei das Treffen gestürmt und Personen festgenommen. Taner Kılıç, der türkische Vorsitzende von Amnesty International, der einen Monat vor jener Razzia in Izmir festgenommen wurde, sieht sich mit dem Vorwurf konfrontiert, Mitglied in einer Terrororganisation zu sein. Er befindet sich derzeit wegen einer anderen Anklage in Haft, wird jedoch auch in der Anklageschrift des Büyükada-Prozesses beschuldigt. Das Gericht entschied, dass sein Fall nun ausschließlich im Büyükada-Prozess behandelt werden soll.

Allen anderen wird in der Anklageschrift darüber hinaus vorgeworfen, „gewaltsame Ereignisse“ geplant zu haben, die den Gezi-Protesten vom Sommer 2013 ähneln und „Chaos im Volk“ auslösen sollten. Die Anklageschrift stützt sich auf die Aussagen von Dolmetschern, die an dem Seminar teilnahmen.

Ein schwerwiegender Vorwurf

Der deutsche Menschenrechtler Peter Steudtner forderte am Mittwoch in seiner etwa einstündigen Anhörung seine „sofortige und bedingungslose Freilassung“. „Der Vorwurf, eine Terrororganisation zu unterstützen, ist ein schwerwiegender Vorwurf“, sagte er vor Gericht. Die Anklageschrift lege keinerlei Beweise für eine Verbindung zwischen ihm und einer terroristischen Organisationen vor: „Ich habe niemals eine terroristische Gruppe unterstützt. Als jemand, der sich gegen Gewalt einsetzt, widerspricht das meiner Persönlichkeit“.

Zu Beginn seiner Verteidigungsrede stellte Steudtner sich und seine Arbeit vor. Seit dem Jahr 2000 arbeite er im Bereich der Menschenrechte und Friedensarbeit. Er habe bisher in verschiedenen Ländern, darunter Mosambik und Südafrika, Angola, Kenia, Nepal, Myanmar und Palästina gearbeitet. „Nie zuvor habe ich mit türkischen Organisationen zusammengearbeitet“, sagte Steudtner.

Nach seiner Festnahme hätten die Polizisten abstruse Anschuldigungen gemacht: „Sie haben mir vorgeworfen, verschiedenen Terrororganisationen anzugehören.“Die Festnahme selbst beschreibt Steudtner als „unmenschlich“. Bis Mitternacht habe ihn niemand in der Polizeistation in Büyükada über den Grund der Festnahme informiert, niemand habe ihn über das Recht, seine Aussage zu verweigern, aufgeklärt. In seiner Verteidigungsrede kritisierte Steudtner auch die türkischen Behörden: „Trotz unserer Anfragen hat die türkische Justiz nichts dafür getan, um meine Rechte zu schützen.“

Der Versuch, Straftaten zu konstruieren

Die Angeklagte Özlem Dalkıran von der Menschenrechtsorganisation „Helsinki Gruppe“ erklärte in ihrer Verteidigung, dass sie beschuldigt werde, das Seminar auf Büyükada organisiert zu haben: „Das Versammlungsrecht ist in der Verfassung garantiert. Die Tatsache, dass die Teilnahme an einer Versammlung als Straftat bewertet wird, ist böswillig“. Über die ersten Stunden der Haft sagte sie: „Ohne zu wissen, wofür wir beschuldigt werden, saßen wir in einem Raum, in dem das Licht 24 Stunden an war, ohne frische Luft.“

Der schwedische Menschenrechtler Ali Gharavi berichtete von einem Menschenrechtssymposium im Jahr 2004, das mit einer Rede des damaligen Ministerpräsidenten und heutigen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan eröffnet wurde: „Der Ministerpräsident Erdoğan sagte damals, dass es ein hervorragendes Interesse für das Symposium gebe und dass wir alle stolz darauf sein könnten.“

Eine weitere Kuriosität, die Gharavi kundtat, bezieht sich auf eine Landkarte, die die Behörden auf seinem Laptop fanden: „Sie beschuldigen mich dafür, dass ich eine Landkarte besitze, auf der das Staatsgebiet der Türkei in zwei Staaten geteilt sei. Dabei handelt es sich um eine Sprachkarte des Nahen Ostens, also um eine Karte, auf der die Gebiete nach verschiedenen, in den jeweiligen Gebieten verbreiteten Sprachen markiert sind.“

Nichts zu bereuen

İdil Eser, die Direktorin der türkischen Sektion von Amnesty International, wies die Vorwürfe wie alle anderen Angeklagten zurück: „Ich verstehe nicht, wie es sein kann, dass wir ein Seminar über digitale Sicherheit und Stressmanagement abhalten und dann für die Mitgliedschaft in drei verschiedenen Terrororganisationen angeklagt werden.“

Nur weil eine Veranstaltung nicht auf Social-Media-Kanälen beworben werde, sei sie nicht geheim. Ihre Verteidigung beendete Eser unter dem Applaus der Anwesenden mit folgenden Worten: „Ich habe in meinem Leben niemals etwas getan, das ich bereuen würde.“

Auch Nalan Erkem, wie Dalkıran Mitglied der Menschenrechtsorganisation „Helsinki Gruppe“, skandalisierte den Vorwurf eines vermeintlich konspirativen Treffens : „Während des Treffens waren unsere Handys an, die Türen standen offen. Alles was wir dort sprachen, war von draußen hörbar. Ich habe sogar Fotos und den Namen unseres Hotel auf Instagram gepostet. Was soll das für ein geheimes Treffen gewesen sein?“

Prozess gegen Menschlichkeit

Nach den Verteidigungsreden forderte der Staatsanwalt die Freilassung aller Angeklagten bis auf Veli Acu. Acu, der für die Menschenrechtsorganisation IHGD und das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen arbeitet, sagte zuvor: „Mir wird der Prozess gemacht, weil ich Menschen helfe. Das ist ein Prozess gegen meine Menschlichkeit“

Das Gericht entschied nach den Plädoyers der Anwälte, acht angeklagte Menschenrechtler freizulassen. Murat Dinçer, der Anwalt von Nalan Erkem und Özlem Dalkıran sagte anschließend: „Das ist das, was wir erwartet haben.“ Es habe sie zunächst besorgt, dass der Staatsanwalt den Menschenrechtler Veli Acu weiter in Haft behalten wollte. Eine solche Entscheidung hätte sie traurig gemacht, so Dinçer.

Ferruh Erkem, der Ehemann von Nalan Erkem sagte: „Ich bin sehr glücklich. Ich möchte, dass alle Menschen schöne Tage erleben.“ Ali Acur, der Bruder von Veli Acu äußerte sich ähnlich: „Ich habe erwartet, dass Veli freigelassen wird. Ich freue mich sehr.“ Der Prozess gegen die elf angeklagten Menschenrechtler wird am 22. November im Istanbuler Gericht von Caglayan fortgesetzt.

TAZ. GAZETE GÜLTEN SARI, 2017-10-26
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