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Ungewöhnlicher Moment bei der Beyaz-Show: Eine Frau am Telefon wünscht sich, dass Kinder nicht mehr sterben.

Der Gefängniskoffer eines Babys

Ayşe Çelik sagte in einer Fernsehshow: „Kinder sollen nicht sterben“ und muss dafür ins Gefängnis. Vor kurzem bekam sie ein Baby und hofft auf Haftaufschub

BANU GÜVEN, 2017-11-02

Das Schicksal der inhaftierten Journalisten in der Türkei ist derzeit in aller Munde, allerdings gibt es eine weitere Realität, die nur hin und wieder den Weg in die Öffentlichkeit findet: Mütter, die mit ihren Kindern die Haft antreten müssen.

Nach Angaben des türkischen Justizministeriums sind 688 Kinder in der Altersgruppe von 0-6 Jahren mit ihren Müttern hinter Gittern (Stand: 4. Juli 2017). Am 20. Oktober kam ein weiteres Kind auf die Welt, das das gleiche Schicksal ereilen wird, wie seine hundertfachen Altersgenossen: Deran.

Erschossen vor der eigenen Haustür

Die Mutter des Babys kennt in der Türkei nahezu jedes Kind. Am 8. Januar 2016 war sie per Live-Schaltung in der Unterhaltungssendung „Beyaz Show“ zu hören. Sie war „die Lehrerin Ayṣe aus Diyarbakır“, die es wagte, den Satz „Kinder sollen nicht sterben“ auszusprechen. Ayşe Çelik wohnte zu diesem Zeitpunkt in Silvan, eine Provinz nahe Diyarbakır, in der eine Ausgangssperre herrschte.

Sie erlebte unter welchen schrecklichen Umständen die Kinder in Silvan leben mussten – ständiger Schusswechsel und Bombenanschläge gehörten zum Alltag. Als Çelik in der Sendung anrief, waren vier Monate seit dem Tod der 10-jährigen Cemile Çağırga vergangen, die während der Ausgangssperre vor ihrer eigenen Haustür erschossen wurde. Und erst 12 Tage, seit der drei Monate alte Miray auf dem Arm seiner Tante durch eine abgefeuerte Kugel starb.

Den Unterhaltungsshows im Fernsehen taten diese Ereignisse keinen Abbruch. War ein Teil des Landes ahnungslos oder nur ignorant? Die Lehrerin wusste nicht mehr weiter, wählte also die Nummer der bekanntesten Talkshow des Landes und sprach in den Hörer. „Wissen Sie eigentlich, was gerade im Osten und Südosten dieses Landes passiert? Hier werden ungeborene Kinder, Mütter, Menschen getötet. Alles, was hier geschieht, wird in den Medien verzerrt dargestellt. Schweigen Sie nicht. Erheben Sie ihre Stimme, zeigen Sie Empathie. Schauen Sie hin. Reichen Sie uns die Hand. Das ist doch erbärmlich. Menschen sollen nicht sterben, Kinder sollen nicht mehr sterben, Mütter sollten nicht mehr weinen.“

Verurteilung war unerwartet

Ayşe Çelik war zu diesem Zeitpunkt 29 Jahre alt. Sie wusste nicht, das sie zwei Jahre später selbst Mutter sein würde. Und auch nicht, das sie mit einem Neugeborenen in Untersuchungshaft kommen würde für einen Satz, der der normalste der Welt ist. Sie musste Beleidigungen aushalten und sich gegen Vorwürfe verteidigen.

Das Gericht entschied, dass ihre Aussage PKK-freundlich sei und verurteilte sie wegen „Propaganda für eine Terrororganisation“ zu einem Jahr und drei Monaten Haft. Dem Gerichtsurteil zufolge war Ayşe Çelik mit dem Satz „Die Kinder sollen nicht sterben, die Mütter sollen nicht mehr weinen“ imstande „die türkischen Streitkräfte vor der Weltöffentlichkeit und der türkischen Öffentlichkeit als eigentliche Urheber für die Unruhen und als Angreifer darzustellen, ohne die Gräueltaten der Terroristen zu benennen“.

„Warum hat sie nicht nach den Toten gefragt, die die illegale Organisation umgebracht hat?“, fragte das Gericht und zählte auf, wen Çelik alles nicht genannt hatte. Auf dieser Liste befanden sich weder Cemile Çağırga noch der kleine Miray.

Babykleidung für Haftantritt

20 Tage vor der Geburt ihres ersten Kindes wurde Çelik der Haftbefehl zugestellt. An diesem Tag hatte sie zum ersten Mal hohen Blutdruck: „Ich hatte Panik, dass sie gleich kommen und mich holen werden. Ich wusch erst einmal die Babykleidung, trocknete und bügelte sie.“ Der Koffer des Babys für den Haftantritt stand bereit.

Als sie sich den türkischen Film „Sie sollen den Drachen nicht abschießen“ (Uçurtmayı Vurmasınlar) ansieht, muss sie weinen. Dieser preisgekrönte Kultfilm der späten 80’er Jahre erzählt die Geschichte eines kleinen Jungen, der während der Militärdiktatur 1980 mit seiner Mutter in Haft lebt. Die schlimmste Szene sei für sie gewesen, „als das Kind im Hof des Gefängnisses stand…“. Den Satz kann sie nicht beenden und auch nicht mehr weitersprechen.

Als wir Çelik kurz vor der Entbindung sprechen, ist ihre Stimme klar: „Ich werde alles dafür tun, dass meine Tochter gesund auf die Welt kommt. Ich werde gut für mich sorgen und nur Gutes denken, damit meine Milch fließt.“

Widerspruch gegen Haftantritt

Sie rechnet die Tage bis zum möglichen Haftantritt. Es ist ihre Art, sich vorzustellen, sie habe genügend Zeit:„Das Urteil wird dem Gefängnis in Bakırköy und der Staatsanwaltschaft mitgeteilt, die mir dann eine Vorladung zukommen lässt. Das müsste etwa zehn Tage dauern. Die Geburt ist um den 23. Oktober berechnet worden, also bin ich im schlimmsten Falle bei Haftantritt erst seit 10 Tagen frisch gebackene Mutter.“

Eine Woche nach unserem Gespräch konnte Çelik ihr Baby in den Armen halten. Trotz der dunklen Wolken, die um sie kreisen, hat sie ihrer Tochter einen Blumenkranz auf den Kopf gelegt. Um wieder zu Kräften zu kommen, bräuchte sie etwas mehr Zeit, erzählt sie: „Ich liege im Wochenbett und habe einen Kaiserschnitt hinter mir. Ich habe Schmerzen, Stillprobleme und schlaflose Nächte. Unter diesen Umständen sollte ich nicht abgeführt werden.“

Ihre Anwältin hat bereits Widerspruch eingelegt, und will erreichen, dass das Urteil wegen der kürzlich erfolgten Entbindung rechtsungültig wird. Wenn die Vorladung sie erreicht, werden sie erneut eine Aufschiebung des Haftantritts von sechs Monaten beantragen. Allerdings befinden sich derzeit Hunderte von Frauen und ihre Kinder im Gefängnis, denen kein Haftaufschub gewährt wurde. So zum Beispiel die deutsche Journalistin und Übersetzerin Meşale Tolu und ihr dreijähriger Sohn.

Kinder versuchen Haft zu verstehen

Nevin Oyman, Ko- Bürgermeisterin von Idil nahe der südostanatolischen Provinz Şırnak, sitzt mit ihrem vierjährigen Kind im Gefängnis von Giresun. Mit dem Vorwurf, Gülen- Anhängerinnen zu sein, sitzt seit dem Putschversuch eine Vielzahl von schwangeren Frauen und Müttern mit ihren Kindern hinter Gittern. Wie der kleine Barış aus dem oben zitierten Film versuchen viele kleine Kinder zu verstehen, warum es ein „drinnen“ gibt, und warum sie dort sind.

Auch Deran wird all das kennenlernen, wenn sie etwas größer geworden ist. Wenn sie sich zu einer „gewissenhaften, charakterstarken und dem Lernen zugeneigte Person“ entwickelt, wie es sich ihre Mutter erhofft. Sie wird sich vielleicht schwermütig an ihre Vergangenheit erinnern, aber stolz auf ihre Mutter sein, die das Lebensrecht für alle Kinder verteidigt hat.

BANU GÜVEN, 2017-11-02
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