Die Demütigung von Kurd*innen hat Tradition in der türkischen Republik. Zuletzt machten Lehrbeauftragte mit fragwürdigem Verhalten auf sich aufmerksam.
Letztens fragte mich ein Freund etwas, dass ich niemals erwartet hätte: „Hast du dich je dafür geschämt, Kurde zu sein?“ Die Frage erinnerte mich an eine kurze Unterhaltung, die ich im September 2014 in Ankara hatte.
Vor einer Kita unterhielt ich mich mit einem dreijährigen Kind auf kurdisch darüber, welchen Spielplatz wir besuchen könnten. Eine Erzieherin, die unser Gespräch mitbekommen hatte, näherte sich lächelnd und fragte in welcher Sprache wir uns unterhielten.
Ich antwortete mit einer Selbstverständlichkeit, dass wir kurdisch sprachen. Die Erzieherin hob ihre Augenbrauen und bemühte sich um ein möglichst freundliches Gesicht, dabei rutschte ihr ein „Wie schön, Sie schämen sich ja gar nicht“ raus. Für sie beinhaltete dieser Satz keine Wertung. Er war eine Feststellung. „Sie wissen doch, in der Regel schämen sich die Menschen, kurdisch zu sprechen. Deshalb habe ich mich so gewundert.“, erklärte sie sich.
Seit einiger Zeit dienen Schulen wieder als Schauplätze für chauvinistische Machtdemonstrationen. Türkische Nationalisten versuchen sich im aktuellen Krieg systematisch für die „Friedensverhandlungen“ zu rächen. Die zunächst geheim gehaltenen, jedoch öffentlich gewordenen Gespräche zwischen kurdischen Repräsentanten und der türkischen Regierung deuteten eine friedliche Lösung des jahrzehntelangen Konflikts an. Doch seit 2015 geht das türkische Militär erneut gegen die kurdische Bevölkerung im Südosten des Landes vor.
Wie sich vielleicht einige erinnern, kursierten Bilder von Sondereinsatzkommandos im Netz. Auf diesen posierten Soldaten in Schulklassen vor Klassentafeln, auf die sie zuvor rassistische und nationalistische Sprüche geschrieben hatten. Bilder, die nach den Parlamentswahlen im Juni 2015 und dem Ausbruch des Konflikts in den kurdischen Gebieten entstanden, über die das türkische Militär Ausgangssperren verhängt hatte.
Nach Aufhebung der Ausgangssperren galt für die ortsansässigen Schüler wieder Schulpflicht. Allerdings waren es diesmal nicht die Sondereinsatzkommandos, die vor den Klassentafeln posierten, sondern die Lehrbeauftragten.
So hat zum Beispiel erst vor wenigen Wochen eine Lehrerin im Landkreis Bismil der Provinz Diyarbakır auf dem Whiteboard im Klassenzimmer die türkische Fahne angebracht. Anschließend posierte sie mit dem Handzeichen der grauen Wölfe, der türkischen Ultranationalisten, davor und teilte das Foto über soziale Netzwerke.
Es wurde behauptet, die Lehrerin sei auf Protest von Kurden und demokratischen Türken aus dem Dienst entlassen worden. Allerdings gab das Regierungspräsidium Diyarbakır in einer Stellungnahme bekannt, die Lehrerin habe auf eigenem Wunsch den Dienst quittiert. So hatten sich die zuständigen Behörden geschickt aus der Situation gewunden, selbst eine Staatsbedienstete entlassen zu müssen.
Ein ähnlicher Vorfall ereignete sich ebenfalls im Oktober in einer Grundschule in Şırnak, einer südostanatolischen Provinz an der syrisch-irakischen Grenze. Es stellte sich heraus, dass ein Lehrer den Spruch „Ich werde nicht kurdisch sprechen“ an der Klassenwand anbringen ließ – um den kurdischen Schülern so das Kurdischsprechen zu verbieten.
Als die Diskussion vom Kurdischverbot an Schulen das türkische Parlament erreichte, rechtfertigte Bildungsminister İsmet Yılmaz das Vorgehen damit, man wolle das „Fluchen und quatsch machen“ unterbinden. Dies zeigt, welchen Wert der Bildungsminister der kurdischen Sprache beimisst.
Am 28. Oktober, einen Tag vor dem 94. Jahrestag der Ausrufung der türkischen Republik, hatten Lehrer in der kurdischen Provinz Siirt die Gesichter von Grundschülern mit Halbmond und Stern, also den Symbolen der türkischen Fahne, bemalt.
Kinder vergessen keine Erniedrigung. Die Diskussion über Langzeitfolgen überlasse ich Pädagogen. Ich möchte an dieser Stelle aber festhalten, dass die Erniedrigung von Kurden ein Bestandteil des türkischen Bildungssystems ist.
Bereits oft habe ich in Istanbul, Ankara, ja sogar in der kurdischen Stadt Diyarbakır erlebt, wie Menschen zwar lauthals türkisch, aber nur ganz leise kurdisch reden. Einmal war ich für ein Interview in einem Dorf bei Erzurum unterwegs. Der Gemeindevorsteher, der mich durch die Gegend führte, erzählte auf dem Weg zu einer Familie, dass diese kein türkisch beherrsche. Ich solle aber meine Fragen dennoch auf türkisch stellen, er würde für mich dolmetschen. „Wenn du kurdisch mit ihnen sprichst, glauben sie nicht, dass du Journalist bist“, begründete er seine Aussage.
Die Assimilationspolitik der türkischen Republik, die Kurden sogar dazu treibt, ihre Muttersprache nicht einmal untereinander zu sprechen, währt seit fast 94 Jahren. Das faktische Verbot der kurdischen Sprache von 1930 bis 1982 erhielt mit der Verfassung von 1982, das nach dem Putsch in Kraft getreten und auch noch heute gültig ist, offiziellen Charakter. Während es in der alten Verfassung „Die Amtssprache des Staates ist türkisch“ hieß, wurde diese Passage in der Verfassung von 1982 strenger formuliert: „Die Sprache des Staates ist türkisch“.
Das als „Putschverfassung“ bekannt gewordene Gesetzbuch regelt im Abschnitt „Bildungsrecht und Bildungspflicht“ das Recht auf muttersprachlichen Unterricht wie folgt: „Keine Sprache außer türkisch darf türkischen Staatsbürgern in Schul- und Bildungseinrichtungen als Muttersprache gelehrt werden. Schul- und Bildungseinrichtungen, in denen Fremdsprachen gelehrt werden oder Schulen, deren Unterrichtssprache eine Fremdsprache ist, unterliegen gesetzlichen Regelungen.“
Da die türkische Regierung kurdisch niemals als Fremdsprache anerkannt hat, wurde auch auf diese Weise verhindert, dass Kurden von dieser Gesetzespassage profitieren. Auf diese Weise konnte die Entwicklung der kurdischen Sprache systematisch verhindert werden. Erst mit der Zeit konnten durch partielle Veränderungen und unter der Auflage strenger staatlicher Überprüfungen, private Einrichtungen Unterricht auf kurdisch anbieten.
Für kurdische Kinder heißt das: türkisch lernen ist Pflicht, kurdisch lernen kostet Geld. Das gilt natürlich nur für jene, die es sich leisten können, eine der wenigen auf kurdisch unterrichtenden Schulen zu besuchen. Kurden für ihre Muttersprache zu beschämen, ist wohl die tückischste aller politischer Maßnahmen der Regierung, die seit der Republikgründung unverändert verfolgt wird.
Es gibt eine Geschichte, veröffentlicht im Jahr 1961 von Hikmet Tanyu in dem Buch „Atatürk und der türkische Nationalismus“, die zeigt wie weit die Demütigungskultur in der Geschichte der Republik reicht. Die Geschichte spielt in den 1930er Jahren und handelt von einem jungen Kurden, der Zwangsmilitärdienst leisten muss, und dem Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk.
Im Çankaya Palast, Atatürks Residenz, hatten junge Soldaten Wachdienst und vertrieben sich in der Abwesenheit des Staatsoberhaupts die Zeit mit Ringen. Dabei wurden sie eines Tages von Atatürk unterbrochen, der überraschend mit dem Auto im Hof vorfuhr. Hektisch flohen die Soldaten durcheinander, doch Atatürk rief sie zu sich, und bestand darauf, dass die Soldaten weitermachten. Ringen war sein Lieblingssport. Vorher wollte er noch wissen, wer unter ihnen der Meisterringer sei.
Ein sichtlich aufgeregter junger Soldat meldete sich und erklärte: „Man nennt mich Kürt Memet – Memet den Kurden“. Atatürk fragte ihn: „Nennt man dich so, weil du stark wie bist, wie ein Kurt – Wolf?“ („Kurt“ ist das türkische Wort für „Wolf“, „kürt“ dagegen bedeutet „kurdisch“, Anm. d. Red). Memet war ein Bauer und hatte keine Schulbildung, doch sofort verstand er den Wink. „Ja Pascha, mein Name ist Kurt Memet – Memet, der Wolf. Ich habe mich vorhin versprochen.“
Seit der Republikgründung träumen türkische Nationalisten davon, dass Kurden sich für ihre Identität schämen, diese verleugnen und sich als Türken verstehen. Sie wollen, dass aus „Memet, dem Kurden“, „Memet, der Wolf“ wird. Obwohl sich dieser Traum nie erfüllte, hören die Nationalisten nicht auf kurdische Kinder zu demütigen, damit diese sich für ihr Sprache und Kultur schämen.