Vom Alltag einer Gerichtsreporterin in Zeiten massenhafter Festnahmen von Kollegen
„Jedes Lebewesen soll den Tod kosten“ – dieser Koranvers steht am Eingang eines Istanbuler Friedhofs. Dieser Vers kommt mir jedes Mal in den Sinn, wenn ich unter dem Torbogen des Istanbuler Justizgebäudes hindurchgehe, dieses seelenlosen grotesken Orts in Çağlayan, den sie „Palast“ nennen. Dann denke ich: „Über jedes Lebewesen wird eines Tages gerichtet werden.“
Ich bin mindestens zwei- bis dreimal wöchentlich als Reporterin für die Cumhuriyet bei Gericht, um über Prozesse gegen Journalisten, Juristen oder Menschenrechtler zu berichten. „Du schläfst wohl hier?“, lautet die häufigste Frage, die mir dort gestellt wird. Tatsächlich habe ich schon häufiger in Çağlayan übernachtet. Es ist furchtbar: Man wird von juristischen Abkürzungen auf dem Ledersofa der Rechtsanwaltskammer in den Schlaf gewogen. Und erst das stundenlange Warten auf ein Urteil …
Die Gerichtsberichtsberichterstattung ist in der Türkei so etabliert, dass die Presse im Justizpalast einen eigenen Raum hat. Wir haben spezielle Ausweise, auf denen „Gerichtssaal-Presse“ steht, die uns von der Staatsanwaltschaft ausgestellt wurden. Was allerdings nicht ausschließt, dass auch wir eines Tages verhaftet werden können.
Im Juli 2014, als die Ermittlungen gegen die Gülenisten begannen, warteten wir im Presseraum auf das Ende einer Befragung. Es war spät in der Nacht, einige schliefen auf den Schreibtischen, andere auf Stühlen, als ein Kollege plötzlich sagte: „Heute Nacht werden sie jemanden aus diesem Raum verhaften.“ Zwar ist das nicht passiert. Aber dass so etwas Absurdes passieren könnte, war in unseren Albträumen durchaus vorstellbar.
Doch es hat auch „amüsante“ Seiten, so viel Zeit bei Gericht zu verbringen. Zum Beispiel wenn man über versteckte Wege in den Gerichtssaal gelangt, nachdem einem Sicherheitskräfte den Zutritt verboten haben. Ich meine nicht irgendwelche mysteriösen Geheimwege, sondern unbenutzte Treppenhäuser und Fahrstühle. Allerdings braucht man starke Nerven, um an dem Sicherheitsbeamten vorbeizukommen, der einen nur wenige Meter vor dem Gerichtssaal mit einem „Bitte kommen Sie mit hinter die Absperrung“ abfängt.
Auch rauchen wir im Justizpalast heimlich auf der Toilette, was wir zuletzt als Teenager an der Oberschule gemacht haben. Den Großteil seiner Arbeitszeit gemeinsam an einem Ort zu verbringen schweißt zusammen. Der Justizpalast Çağlayan ist eine auf 343 Quadratmeter angelegte eigene Stadt, verteilt auf 16 Stockwerke mit Kita, Friseursalon, Markt, Krankenstation, Wachstation, Einwohnermeldestelle, Buchhandel, Postamt, Bank, Cafés und Erholungszentren. Auf einigen Terrassen sind wir Stammgäste, und in den Cafés begrüßt uns die Bedienung mit einem „So wie immer?“.
Ich habe eine widersprüchliche Beziehung zur Justiz und zu der Art von Journalismus, den ich hier mache. Bevor meine Kollegen und Freunde verhaftet wurden, arbeitete ich hier gerne. Wenn ich aber heute an den beiden Justitia-Statuen vorbeigehe, die am Eingang Besucher empfangen, überkommt mich ein hysterisches Lachen.
Im sechsten Stock des Justizpalastes arbeitet eine ganze Verhaftungsmaschinerie. „Wir sind hier und kämpfen weiter“, lautet unsere Botschaft, wenn wir unseren Freunden, die nach ihrer Fließbandverurteilung ins Gefängnis gebracht werden, zum Abschied winken. Dann verfällt dieses gigantische Gebäude, das mich an den bücherfressenden Zerstörer aus der „Sehnsucht des Vorlesers“ von Jean-Paul Didierlaurent erinnert, für einen Moment in den Schlaf – bis zur nächsten Verhaftung.
Aus dem Türkischen von Canset İçpınar