Am ersten Prozesstag gegen den HDP-Chef Selahattin Demirtaş erschien der Angeklagte nicht. Das Gericht entschied, ihn nicht aus der Untersuchungshaft zu entlassen
Nahe der türkischen Hauptstadt Ankara entfaltet sich ein jetzt schon historischer Prozess. In einem abgelegenen Landkreis namens Sincan steht eine Haftanstalt, auf deren Gelände ein Gerichtssaal eingerichtet wurde. Hunderte von Menschen drängen sich am Donnerstag vormittag vor den Gefängnistoren, um in den Gerichtsaal eingelassen zu werden.
Es ist ein für Ankara typisch kalter Morgen und die Menschen kommen aus allen Ecken und Enden der Türkei. Eine Frau sagt zu einem Polizeibeamten, der sie am Betreten hindern will: „Ist ja gut. Ich will nur kurz das Gesicht unseres Vorsitzenden sehen, dann geh ich auch wieder!“ Doch selbst wenn sie mit diesem Argument Einlass gewährt bekommt, wird sie das Gesicht des seit 399 Tagen in Untersuchungshaft sitzenden HDP-Co-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş nicht zu sehen bekommen. Denn er selbst wurde „aus Sicherheitsgründen“ nicht von der Polizei in den Gerichtsaal gebracht, in dem gegen ihn verhandelt wird.
Im Gegenzug lehnte Demirtaş es ab, über Live-Kamera in den Verhandlungssaal geschaltet zu werden. Er besteht darauf, persönlich vor dem Gericht zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen Stellung zu nehmen. Jetzt wird also ohne ihn verhandelt: Fast einhundert Rechtsänwältinnen und Anwälte arbeiten sich an insgesamt 43 Ordnern voller Prozessakten ab, um die Vorwürfe gegen ihren Mandanten einzeln zu entkräftigen.
Das sogenannte Hauptverfahren – das zur Begründung für die Inhaftierung des Politikers diente, der am 4. November 2016 in seiner Heimatstadt Diyarbakır verhaftet wurde – ist ein Sammelsurium an Seltsamkeiten. An jenem 4. November wurde Demirtaş in Diyarbakır von der Polizei abgeholt und in ein Gefängnis bei Edirne im äußersten Westen der Türkei verbracht. Verhandelt wird gegen ihn in Ankara. Und zwar in jenem riesigen Gerichtsaal, der eigens für das Verfahren gegen die des Putschversuches vom 15. Juli 2016 Bezichtigten erbaut wurde.
Mit ihrer Forderung, die draußen wartenden Bürger*innen und die internationale Presse als Beobachter zuzulassen, sind Demirtaş' Anwält*innen abgeprallt. Einer von ihnen, der erfahrene Haudegen Ercan Kanar argumentierte zwar, dass diese Entscheidung das internationale Interesse an dem zweifelhaften Verfahren nur erhöhen wird, aber die Richter beeindruckte das nicht.
Mit Kanars Kollegen Bayram Aslan konnte ich direkt vor Verhandlungsbeginn ein paar Worte auf dem Flur wechseln. Er sprach von einer „juristischen Kuriosität“ und erläuterte mir: „Das Verfahren beruht auf 31 einzelnen Anträgen zur Aufhebung der Immunität des Abgeordneten Demirtaş. Allerdings bezieht sich jeder einzelne dieser 31 Anträge auf Wortbeiträge, die er im Schutze seiner Immunität zunächst im türkischen Parlament gemacht und dann zu verschiedenen Anlässen öffentlich wiederholt hat. Die türkische Verfassung besagt unter Artikel 83/1, dass ein Abgeordneter nicht aufgrund seiner Äußerungen verfolgt werden darf. Doch Demirtaş wird nicht nur verfolgt – er sitzt in Untersuchungshaft!“
Und warum die Untersuchungshaft? Dass die nicht aufgehoben werden dürfe, begründet der Staatsanwalt gleich zu Beginn des Verhandlungstages unter Verweis auf die „öffentliche Sicherheit“ und fordert das Gericht auf, sich seiner Sichtweise anzuschließen.
Anwalt Mahsuni Karaman hingegen behauptet, Demirtaş werde überhaupt nicht aus juristischen, sondern aus rein politischen Gründen verfolgt, und zwar auf Anweisung des Staatspräsidenten Tayyip Erdoğan. Ercan Kanar warnt, dass das Demirtaş-Verfahren eines Tages revidiert und als Unglücksfall der Justiz bewertet werden müsse. Fast alle Anträge zur Aufhebung der Abgeordnetenimmunität wurden nach dem Scheitern des 2013 begonnenen Friedensprozesses zwischen der türkischen Regierung und der PKK aufgesetzt, in dem Demirtaş ein Hauptakteur war. Für Kanar ist klar: Der Wille zur Verfolgung Demirtaş‘ und der anderen HDP-Abgeordneten speist sich aus dem Wunsch nach Rache dafür, dass die HDP das von Erdoğan propagierte Präsidialsystem nicht mittragen wollte – was Demirtaş im März 2015 im Parlament verkündete – und daraufhin bei den Wahlen im Juni über 13% der Wählerstimmen bekam.
Auch wenn Demirtaş im Grunde nur wegen seiner Äußerungen vor Gericht steht – die Vorwürfe sind doch recht schwerwiegend. Ihm wird zur Last gelegt, eine Terrororganisation gegründet und angeführt zu haben, Straftaten Dritter gebilligt und die Täter gelobt zu haben, Volksverhetzung und Verstöße gegen das Versammlungsgesetz begangen zu haben. Es gibt zwar 31 Parlamentsakten, aber an diesem 7. Dezember liegen in der Tat 96 verschiedene Strafverfahren gegen Demirtaş vor. Manche davon sind sogar schon Gegenstand eigener Prozesstage gewesen – aber an keiner Verhandlung hat Demirtaş bisher teilnehmen dürfen.
Fragt man dazu Funktionär*innen der HDP, so fragen sie berechtigterweise zurück: „Am 4. November 2016 wurde Demirtaş mitten in der Nacht von der Polizei verhaftet, da die Gefahr bestehe, dass er sich einem Verfahren entziehen würde. Aber ist es denn wirklich so, dass Demirtaş sich dem Verfahren entzieht, oder entziehen sich nicht vielmehr die Gerichte Demirtaş?“
Da Journalist*innen weder Computer noch Smartphones oder Aufnahmegeräte mit in den Verhandlungssaal nehmen dürfen, muss man das Gelände verlassen, um über den Prozess zu berichten. Als ich das tat, nutzte ich die Gelegenheit, einen Anwalt zu fragen, was er für ein Ergebnis vom heutigen Verhandlungstag erwarte. Die Antwort klingt leicht lakonisch: „Wir ziehen unsere Verteidigung durch, aber die heutige Verhandlung wird nichts bringen.“
Das Gericht entschied, Demirtaş nicht aus der Untersuchungshaft zu entlassen und dass er bei der nächsten Anhörung am 14.Februar 2018 vor Gericht erscheinen darf.
Übersetzung: Oliver Kontny