Wie die Zukunft in der Türkei aussieht, hängt auch davon ab, was man für sie tut. Mit dem Journal möchte taz.gazete einen Beitrag leisten.
Die Bemühungen um die Demokratisierung der Türkei sind älter als die westliche Berichterstattung über sie. Doch wurde dieser Prozess jemals abgeschlossen? Nein, würden manche unserer Tanten und Onkel, die Generation 60plus, antworten. Manche von ihnen würden meinen, dass die derzeitige Lage dem Standard der Türkei entspricht, eine unveränderbare Wahrheit des Landes, dem Ungerechtigkeit in die historische DNA eingeschrieben ist. Es wäre dann ein Leichtes, ohne weitere Bedenken, ohne Kopfzerbrechen in den Alltag zurückzukehren. Die Türkei, so ist sie eben.
Und die Jüngeren? Viele, die die Gezi-Proteste miterlebt haben, würden dieser Einschätzung ebenso mit einem Nein begegnen. Sie würden so antworten, weil jeder gegenwärtige Kampf um Demokratie auf dem Fundament der Niederlagen und Fortschritte der vorausgegangenen Generationen steht. Çetin Altan, ein Schriftsteller, der selbst oft genug unter den Repressalien der Herrschenden litt und dessen Söhne Ahmet und Mehmet Altan derzeit wegen ihren Schriften im Gefängnis sitzen, schrieb im Oktober 2015, kurz bevor er von uns ging:
„Um den verwundeten Riesen wieder auf die Beine zu stellen, haben wir ihn Generationen über Generationen auf unseren Rücken getragen.Eines Tages wird dieses Land auf seinen Beinen stehen. Auch wenn ihr euer Ziel nicht erreicht, auch wenn ihr dieses Ziel an die nächsten Generationen weitergeben müsst – wenn ihr den Kampf nicht aufgebt, dann werdet ihr einmal sagen können: ‚Auch wir haben gar nicht so schlecht gekämpft für eine bessere Welt.‘ “
Seit dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 werden wir Zeuge eines großen Rückschritts in der Entwicklung der Demokratie in der Türkei. Menschenrechtsverteidiger, Aktivisten, Journalisten und all jene, die der Vorstellung der aktuellen Regierung nicht entsprechen, sind in einer Sackgasse. Die türkische Regierung spielt alle Karten der Repression aus, wie in einem Delirium agiert sie paranoid und aggressiv.
Und trotzdem: Irgendwann, wann auch immer, wird sich die Lage wieder entspannen. Entspannen müssen.
Aussichtslosigkeit und Aussicht – ein gegensätzliches Wortpaar, das zur zeitgenössischen Türkei wie die Faust aufs Auge passt –, das bleibt nach der Lektüre dieses Journals voller Geschichten von Unterdrückung und Widerstand.
Es war Karl Marx, der einmal über „die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt“ schrieb: „Die Bedingungen dieser Bewegung ergeben sich aus der jetzt bestehenden Voraussetzung.“ Mit den Bemühungen jener, die vor uns waren und die nach uns kommen werden.
Knapp 50% der Bevölkerung der Türkei ist oppositionell eingestellt. Das ist die Erkenntnis aus dem dem Verfassungsreferendum im April 2017. Die Regierung weiß das. Sie hat viele Fehler gemacht. Zu viele, um den Laden mit der bisherigen Gangart weiter zusammenhalten zu können. Das gibt der Opposition Hoffnung. Und deshalb kann es kein oppositioneller Mensch aus der Türkei akzeptieren, wenn Europäer die Türkei als „verloren“ deklarieren.
Die Dynamik der Gezi-Proteste von 2013 ist nicht verschwunden, auch wenn sie derzeit in der selben Vehemenz nicht sichtbar ist, auch wenn man in diesen Tagen den Eindruck haben könnte, dass die Gezi-Proteste Jahrzehnte zurückliegen. Dennoch: Widerstand manifestierte sich seit Gezi immer und immer wieder, zuletzt bei der Nein-Kampagne gegen das Erdogan'sche Präsidialsystem.
Aussichtslosigkeit und Aussicht, diese Worte gehören zusammen, wenn man über die Türkei spricht. Und nicht nur über die Türkei. In ganz Europa, das sich in seiner Geschichte oft genug in Abgrenzung zum „Orient“ definierte, zeigen sich nationalistische, rassistische und reaktionäre Kräfte mit neuem Selbstbewusstsein. Der Aufstieg der AKP ist als Teil dieser internationalen antidemokratischen Tendenz zu verstehen. Es kann deshalb keine Rede von einem Kampf um Demokratie in diesem oder jenem Land sein. Es ist ein Kampf um Demokratie, an vielen Orten. Also: In der Türkei. In Deutschland. Überall.
Wir möchten uns solidarisieren, jenen eine Stimme geben, die in der Türkei zum Schweigen gebracht werden sollen.
Eigentlich geht es aber um mehr als Solidarität. Wir kämpfen zusammen. Machen Sie mit, damit auch Sie einmal sagen können: „Auch wir haben gar nicht so schlecht gekämpft für eine bessere Welt.“