Mit dem am 23.12. erlassenen Dekret 696 werden in der Türkei alle amnestiert, die an Gewalttaten im Zusammenhang mit der Niederschlagung des Putschversuchs beteiligt waren.
Hätte uns jemand gesagt, dass wir eines Tages in der Türkei „frei wie die Vögel“ sein werden, hätten die meisten von uns wohl geantwortet: „Hoffentlich leben wir lange genug, um das noch zu erleben.“ Und nun, völlig unerwartet, ist dieser Tag gekommen. Am 23.12.Wegen eines ruckzuck erlassenen Dekrets. Über Nacht wurden wir alle „vogelfrei“. Wie? Dafür müssen wir 2.500 Jahre zurückblicken.
Homo sacer ist ein interessanter Terminus aus dem römischen Recht. Homo heißt bekanntlich Mensch, und „sacer“ bedeutet in diversen Sprachen (frz.: sacré, engl.: sacred, span.: sagrado usw.) „heilig“. Wörtlich übersetzt heißt Homo sacer also „heiliger Mensch“. Doch im Gegensatz zur reinen Wortbedeutung steht „sacer“ für „verflucht“. Homo sacer ist ein seiner Bürgerrechte beraubter, geächteter Mensch. Falls ihn jemand tötet, muss sich der Mörder nicht dafür verantworten.
Vergleichbares treffen wir im Europa des Mittelalters an. Auch im Bamberger Kodex „Bambergische Peinliche Halsgerichtsordnung“ findet sich der Begriff „vogelfrei“ und meint etwas ganz Ähnliches. Wörtlich bedeutet vogelfrei „frei wie die Vögel“.
Ein Unternehmen, das Tandemflüge per Gleitschirm anbietet, hat das Wort sogar zum Firmennamen gewählt. Jacob Grimm, der ältere der Märchenerzählerbrüder, erläutert „vogelfrei“ folgendermaßen: „sein leib soll frei und erlaubt sein allen leuten und thieren, den vögeln in den lüften, den fischen im waßer“. Sprich: Er ist nicht frei wie die Vögel, sondern den Vögeln (zum Fraß) freigegeben.
Wie beim Homo sacer hat es keine juristischen, bürokratischen, finanziellen oder strafrechtlichen Konsequenzen, wenn jemand einen Vogelfreien tötet, egal, ob der Täter ein offizielles Amt inne hat, eine offizielle Pflicht erfüllt oder nicht. Niemand fragt ihn: „Landsmann, wieso hast du den Mann umgebracht?“ Der getötete Vogelfreie bleibt ungesühnt.
Im Grunde ist die Bezeichnung „vogelfrei“ gar nicht so widersprüchlich, denn ein Vogelfreier ist tatsächlich frei wie die Vögel. Schließlich ist es ja, von wenigen Ausnahmen abgesehen, auch nicht strafbar, Jagd auf Vögel zu machen. Es besteht also kein echter Unterschied dazwischen, für die Vögel freigegeben oder frei wie die Vögel zu sein.
Soweit ich weiß, wurde vor 2.500 Jahren öffentlich bekanntgegeben, wer zum Homo sacer erklärt worden war. Was das mittelalterlicher Europa angeht, bin ich mir da nicht ganz sicher, doch wenn ich mich nicht irre, kann nur die „Neue Türkei“ sich rühmen, die Hälfte der Bürger im Land für vogelfrei zu erklären.
„Wer an der Niederschlagung des Putschversuchs am 15. Juli 2016 oder an Aktionen, die die Regierung in diesem Zusammenhang sieht, aktiv war, wird mit dem „Dekret 696“ von jeder Verantwortung dafür entbunden. In der Opposition nennt man dieses Dekret bereits „Bürgerkriegsklausel“.
Da auch „der Verfassungsrechtler“ der AKP eindeutig und freudig zum Ausdruck brachte, der Paragraph gelte auch für die Zukunft, müssen wir davon ausgehen, dass es sich nicht allein um eine Amnestie für die Taten vom 15. Juli und vom Folgetag handelt. Selbst mit dem größtmöglichen Wohlwollen interpretiert, lässt sich nicht leugnen, dass der Paragraph auch jenen grünes Licht gibt, die eigenmächtig und eigenhändig Richter spielen wollen.
Besonders schlimm ist, dass es in der „Neuen Türkei“ reicht, ein Buch zu schreiben, etwas auf Twitter zu posten, an einer Demo teilzunehmen oder an der Middle Eastern Technical University zu studieren, um von der höchsten staatlichen Instanz zum Terroristen erklärt zu werden. Der Journalist Ahmet Şık, der sein Leben lang nichts anderes getan hat, als zu fotografieren und zu berichten, ist in den Augen des Staates ein Terrorist. Auch er ist frei wie die Vögel.
Auch Vögeln gestattet niemand, sich zu verteidigen.
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe