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Totenstille auf den Straßen der Grenzstadt Kilis

Der Krieg vor der Haustür

In Kilis leben die Menschen seit Jahren an der Front. Jetzt sind sie unmittelbar vom Krieg betroffen. Die türkische Militäroffensive in Afrin fordert erste Todesopfer

NURCAN ONUR, 2018-01-29

Muzaffer Aydemir und Tariq Tabbaq sind die ersten Zivilisten, die in der Grenzstadt Kilis der Militäroffensive „Operation Olivenzweig“ zum Opfer gefallen sind. Sie wurden vergangenen Mittwoch durch einen Raketeneinschlag in die Kuppel der Çalık-Moschee getötet, während das Abendgebet besuchten. Noch während der Rauch aus der bombardierten Moscheekuppel aufstieg, schlug hundert Meter weiter eine zweite Rakete in das Haus einer syrischen Familie ein.

Laut den türkischen Behörden stammen diese Raketen aus Afrin, das derzeit von der YPG kontrolliert wird. Seit dem Beginn der Offensive gegen die Kurdenmiliz in Nordsyrien am 20. Januar seien mindestens 20 Raketen in Kilis eingeschlagen.

Das Haus der 58-jährigen Gülizar Polat ist durch die Detonation der Bombe völlig unbewohnbar geworden. Auch der Traktor, der in ihrer Garage stand, ist zerstört. „Wie sollen wir jetzt unseren Lebensunterhalt verdienen? Wir hatten den Traktor noch nicht abbezahlt, wie wollen wir jetzt unseren Lebensunterhalt verdienen? Bitte seht nicht weg, die Türkei darf nicht wie Syrien werden“, sagt die vierfache Mutter.

Die Anspannung ist in der Bevölkerung von Kilis deutlich zu merken. Grenznahe Wohngebiete sind zu „Sondersicherheitsgebieten“ erklärt worden. Wer hier wohnt, steht de facto unter Hausarrest. Einer von ihnen ist der 29-Jährige Bünyamin Polat. Er spürt, dass schwere Tage bevorstehen. Auch wenn er der Meinung ist, die Menschen hier müssten ihr Land verteidigen, sagt er doch, dass er nicht Angst leben wolle. Er sehne sich nach Frieden und Ruhe.

Protest gegen die, die Kilis verlassen

Auch Journalist*innen dürfen diese Gebiete nicht betreten. Über der ganzen Stadt liegt eine Totenstille; Straßen und Marktplätze sind leer gefegt, Geschäfte kaum besucht. Der Teeverkäufer Selçuk, der seinen Laden in einer Passage in Kilis hat, erzählt, dass das Einzelgewerbe in einer sehr schwierigen Lage sei. Vor dem Krieg habe er gut verdient, aber nun sei die Wirtschaft am Boden, die Mieten gestiegen und wegen der Bomben gebe es keine Arbeit.

An der Trauerfeier für Aydemir und Tabbaq nehmen kaum Leute teil. Der 72-jährige Schneider und der 28-Jähriger Geflüchtete aus Syrien, der als Simit-Verkäufer sein Geld verdiente, werden als Märtyrer verabschiedet. Ihre Särge sind in türkische Nationalfahnen eingeschlagen, auf Tabbaqs Sarg liegt zusätzlich noch eine Fahne der Freien Syrischen Armee.

Am Busbahnhof trifft man dieser Tage viele Studierende und ganze Familien, die infolge der Auseinandersetzungen Tickets kaufen, um ins sicherere Umland zu fahren. Manche Männer erzählen, dass sie ihre Familien längst in Sicherheit gebracht haben. Das bleibt nicht unbemerkt. Autokonvois mit türkischen Fahnen verfluchen jene, die die Stadt verlassen oder ihre Geschäfte schließen und solidarisieren sich hupend mit der türkischen Armee. Manche Konvoi-Aktivisten rufen aus dem Auto, dass sie in den Kampf nach Afrin ziehen wollen und nur auf einen Marschbefehl vom Reis, ihrem Führer, also Staatspräsident Erdoğan, warten.

Foto: Nurcan Onur
Der Teeverkäufer Selçuk hat kaum noch Arbeit

„Viele aus unserem Haus sind zu ihren Verwandten nach Gaziantep gezogen, ich aber nicht“, sagt Zeynep Açıkel. Die 70-Jährige will in Kilis bleiben. „Manche verlassen aus Angst die Stadt. Schon früher sind hunderte Bomben auf Kilis gefallen, aber ich bin nicht gegangen. Wenn ich sterbe, dann in meinem Heimatland.“

Zumindest aus der Entfernung ist der Krieg für die Bewohner von Kilis schon seit einigen Jahren ein Bekannter. Seit dem Beginn des Bürgerkriegs in Syrien 2012 sind die heftigen Gefechte auf der syrischen Seite samt Artillerieeinschlägen in den grenznahen Dörfern deutlich zu hören, die Rauchwolken und pulverisierten Überreste der Zerstörung kann man mit bloßem Auge sehen. Die Zahl der aus Syrien stammenden Geflüchteten ist so hoch wie die ursprüngliche Einwohnerzahl. Auf den Hauptstraßen sieht man mittlerweile mehr arabische Ladenschilder als türkische und es gibt Viertel, in denen ausschließlich Syrer*innen leben.

Mehr Angst als sie zugeben wollen

Doch seit dem 20. Januar ist der Krieg ein ganzes Stück näher gekommen: Raketeneinschläge, beschädigte Wohnhäuser und Verletzte, die auf Bahren ins nächste Krankenhaus gebracht werden. Ein Paketzusteller hat seine Dienstleistungen eingestellt, weil die Sicherheit seiner Mitarbeiter*innen nicht mehr gewährleistet ist. Die Entscheidung hat eine Gruppe von Nationalisten derart verärgert, dass sie vor dem Büro des Paketzustellers eine Protestdemonstration veranstalteten und den Betreiber als “Landesverräter“ beschimpften.

Schon ein kleiner Spaziergang über die Geschäftsstraße von Kilis reicht, um die nationalistische und konservativ-islamische Stimmung zu spüren. Sie ist so dominant, dass die Menschen zögern, ihre Meinung zu sagen und mehr Angst zu haben scheinen, als sie zugeben.

Es ist nicht nur der Paketzusteller, der seine Rollläden dauerhaft heruntergelassen hat. Aufgrund der Sicherheitslage haben viele kleinere und mittlere Firmen Kilis verlassen, vor allem im Bausektor, dem wichtigster Arbeitgeber der Stadt. Für Neubauten finden sich ohnehin kaum noch Abnehmer, so dass viele Bauunternehmer abgewandert sind.

Die Einwohner*innen von Kilis kämpfen immer noch mit den Folgen einer unmittelbaren Nachbarschaft zum sogenannten Islamischen Staat. Der mühsam wieder errungene Alltag wird nun von der Militäroperation gegen Afrin hinweggefegt. Trotzdem sagen viele, dass sie sich wünschen, die Grenze und das Umland würden “vom Terror gereinigt“, eine Formulierung, die die Regierung für ihr kriegerisches Vorgehen benutzt.

Und dennoch bekommt man den Eindruck, dass die Bevölkerung zwiegespalten ist. Der eine Teil feiert fanatisch die Afrin-Operation. Der andere Teil beklagt sich, dass die Verantwortlichen die Stadt im Stich gelassen haben. Niemand kümmert sich um ihr Schicksal. Die Plakate, die letztes Jahr noch als Reaktion auf die bewaffneten Auseinandersetzungen in den Schaufenstern vieler Geschäfte zu sehen waren, sind jetzt weg: “Kilis stirbt. Danke Vaterland!“ wagt heute niemand mehr zu schreiben.

Am 27. Januar besucht der Generalstabschef des türkischen Militärs, Hulusi Akar Kilis. „Es wird bald vorbei sein, alles wird gut“, verspricht er den Bürger*innen von Kilis.

Aus dem Türkischen von Oliver Kontny

NURCAN ONUR, 2018-01-29
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