Kopftuchtragende Frauen und Feminismus? Nur vermeintlich ein Widerspruch, wie ein Handyvideo aus der Provinz Kars zeigt.
Welches Bild die Öffentlichkeit in der Türkei von der kopftuchtragenden Dorfbewohnerin in Anatolien hat, zeigt sich anhand eines Handyvideos, das in den vergangenen Wochen in den sozialen Medien durch die Decke ging. Kopftuchtragende Frauen, das sind meistens die, die still im Hintergrund ihr Tagewerk verrichten und seltener zu den feministischen Ikonen zählen, auch in der Türkei. Mit Zümran Ömür wackelt dieses Bild. Die 46-jährige Mutter von zwei fast erwachsenen Söhnen aus der Nähe von Kars in Ostanatolien ist überrascht von ihrem Fame als Internetphänomen.
Warum? Das erklärt ein Video, das Mitte Februar in den sozialen Medien der Türkei viral ging. Lächelnd begrüßt Zümran Ömür in dem zweiminütigen Video eine Besuchergruppe zuerst auf Französisch, bis sie auf Türkisch erklärt, was sie in dem schneebedeckten Dorf Boğatepe macht. Als Vorsitzende des Vereins „Boğatepe-Verein für Umwelt und Leben“, gegründet 2007, hat sie hier eine kulinarische und ökologisch bewusste Anlaufstelle für Dorfbewohner*innen und Gäste geschaffen: ein Bed and Breakfast und ein Käsemuseum. Zwei Drittel der 60 Mitglieder des Vereins sind Frauen. Mit eingeladenen Experten haben sie über 650 einheimische Pflanzen in ihrer Region bestimmt und dabei erkannt, dass mehrere Dutzend dieser Pflanzen als Heilmittel gegen Krankheiten, aber auch in Cremes und ätherischen Ölen zu verwenden sind.
In den Gesprächen mit den anderen Dorfbewohnerinnen hat Ömür festgestellt, dass sich die Frauen aus dem Dorf in Patientengesprächen nur schwer mitteilen können. Scham sei für sie ein Faktor. Deshalb hat sie den Frauen erst Kommunikationstrainings und anschließend Ernährungs- und Gesundheitsseminare vermittelt. Im Video erzählt Ömür, dass sie oft gedacht habe: „Warum sollen wir all das nicht lernen?“
Ömürs selbstbewusste Art, all das mit verschränkten Armen und einem verschmitzten Lachen zu erzählen – selten ist man als Zuschauer*in so sehr mit seinen eigenen Vorurteilen im Kopf konfrontiert. Nach all den Kursen haben die Frauen des Vereins Französisch gelernt. Einfach so, weil es ihr Wunsch war. Im zweiten Schritt haben sie sich laut Ömür überlegt, per Ökotourismus Besucher in ihren Ort locken. Eine Fremdsprache zu können, ist dafür ein Segen.
„Sie glauben gar nicht, wie viele von diesen Frauen es in Anatolien gibt“, sagt Hale Akay, die 2017 im Rahmen einer Forschungsarbeit für die Türkiye Avrupa Vakfi (Türkei Europa Stiftung) Unzählige dieser Frauen traf. Frauen, die sich als Vorsitzende von kleinen Vereinen und von Frauennetzwerken betätigen und im besten Fall ihr eigenes Geld damit verdienen. In Deutschland wird viel über die Wirksamkeit der EU-Fördergelder für die Türkei, auch angesichts der Erosion der Demokratie in der Türkei, diskutiert.
Ömür und den aktiven Frauen haben sie eine finanzielle Basis verschafft. Denn diese lokalen Strukturen werden durch hiesige Entwicklungsagenturen, UN- und EU-Fördergelder finanziert. „Leider“, sagt die Sozialforscherin Akay, „scheint mir kaum noch möglich, die Arbeit dieser Frauen in einem weiteren Bericht zusammenzufassen.“
Aufgrund des Putschversuchs im Juli 2016 sei die Arbeit mit den lokalen Entwicklungsagenturen, die mit den zivilgesellschaftlichen Strukturen vor Ort eng zusammenarbeiten, erschwert worden. Nur sieben von zehn der lokalen Entwicklungsagenturen konnten noch befragt werden. Viele der Mitarbeiter*innen seien nach dem Putschversuch entlassen worden. Die wichtigen qualitativen Interviews mit den Engagierten vor Ort hätten ebenfalls darunter gelitten. Aus nicht genannten Gründen wurden sie kurzerhand abgesagt. Deshalb sei es schwer, genaue Zahlen zu den aktiven Frauen zu nennen. Aber klar sei, dass es weitaus weniger Vereine in der Provinzen gebe als in den Großstädten.
„Wenn wir in der Provinz auf funktionierende zivilgesellschaftliche Strukturen getroffen sind, vor allem im Bereich Frauenförderung, in der Arbeit mit Behinderten und in der Umweltarbeit, dann waren unglaublich aktive Frauen in den Vereinen und deren Vorständen“, sagt Akay. Die Frauen vor Ort, deren Anteil am Arbeitsmarkt in vielen Provinzen noch vor wenigen Jahren nahezu gegen Null ging, reisten auf Einladung der „Türkei Europa Stiftung“ in den frühen 2000er Jahren in die westlichen Städte der Türkei und trafen sich dort mit dortigen, schon länger existierenden Frauennetzwerken.
So sei auch die Idee des Gänsehauses, „Kaz Evi“, in Kars entstanden, erzählt die Forscherin Akay. 2007 gründeten die Frauen in Kars als erste Unternehmerinnen überhaupt eine Kooperative, in der sie Gänse, die in Kars bisher nur vereinzelt und zum Eigengebrauch gehalten wurden, zum Verkauf anbot. Die Mitarbeiterinnen sind Frauen aus den umliegenden Dörfern. Das Konzept ist bis heute erfolgreich. So sehr, dass sie nun auch ins Ausland Gänse importieren können.
Für die Frauen in der Provinz kann die finanzielle Unabhängigkeit ihr Leben verbessern, aber Ömür geht es um mehr. „Wir glauben, dass eine unproduktive Gesellschaft zum Scheitern verurteilt ist“, sagt sie in dem Video. Ihr Vorhaben, allen Frauen in ihrer Umgebung die Möglichkeit zu eröffnen, mit einem Bed and Breakfast eigenes Geld zu verdienen, scheint zu fruchten.
Für die hart arbeitenden Frauen habe sie Yogalehrer*innen eingeladen, erzählt sie im Video, während sie demonstrativ Zeigefinger und Daumen zum Yogagruß formt. In den Yogastunden lernten sie jetzt, wie sie ihre Chakren öffnen: „Bevor wir mit unserer Arbeit anfangen, starten wir mit einem ‚Om‘ in den Tag“. Chakren öffnen, Kühe melken, Käse formen und Gäste bewirten; neben all dem kümmert sich Ömür auch um das erste ökologische Käsemuseum des Dorfes. Boğatepe ist angebunden an die nächstgrößere Stadt Kars, die in der Türkei besonders für ihren Gravyer, Gruyère-Käse, bekannte Käsestadt.
In der zur Jahrhundertwende errichteten und jetzt als Museum genutzten Käserei können Gäste über 30 Sorten Käse probieren, die die Frauen und Männer vor Ort nach alten Rezepten herstellen. Ömürs Traum ist es, bald möglichst viele Ökoprodukte aus eigener Herstellung anzubieten. 17 der Produkte haben bereits ein Ökosiegel. Dagegen haben die ehemals brummelnden Ehemänner keine Zweifel mehr äußern können. „Was sagt eigentlich Ihr Ehemann dazu“, fragt eine junge Frau aus der Besuchergruppe Ömür im Video. „Nichts“, antwortet sie. „Wenn ich morgens um drei aufstehe und einer 30-köpfigen Besuchergruppe Frühstück bereite, dann tu ich ihm ja nichts damit. Wir Frauen und Männer hier im Dorf, wir sind ein Team.“