Die Kurd*innen waren mal richtig cool. Dann sind sie in Vergessenheit geraten. Oder?
2015, an einem sonnigen Septembermorgen, saß ich mit einem kurdischen Studenten in einem Café in einer ruhigen Gasse am Platz der Republik in Paris. Er erzählte mir stolz, wie französische Polizisten ihn nach seinem Ausweis gefragt hätten. „Ich bin Kurde aus der Türkei“ sei seine Antwort gewesen. Der Polizeibeamte hätte freundlich ausgerufen: 'Oho! Ein IS-Jäger!’ Dem Studenten reichte er den Pass zurück und schaute nicht in seine Tasche. „In Frankreich betrachten sie die Kurden als Helden“ war das Fazit des Studenten.
Der sogenannte „Islamische Staat“ (IS)verübte am 7. Januar 2015 einen Anschlag auf die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo. Die mitteleuropäischen Länder packte die Furcht vor diesen brutalen Dschihadisten, während sich gleichzeitig Bewunderung für die gegen den IS kämpfenden Kurden breitmachte.
Am 13. November 2015, zwei Monate nach dem Café-Gespräch mit dem Studenten, verübten IS-Kommandos Terroranschläge auf sieben Ziele in und um Paris gleichzeitig, bei denen 130 Menschen umkamen und mindestens 300 verletzt wurden. Es folgten: am 22. März 2016 ein Selbstmordanschlag mit 35 Toten am Brüsseler Flughafen, am 4. Juli 2016 84 Tote durch einen Anschlag mit einem in die Menschenmenge rasenden LKW. Dann Ansbach und Berlin. Daran erinnert sich doch jeder, nicht wahr? Oder wächst die Vergesslichkeit, wenn die Bedrohung abnimmt?
2015 und 2016, als in den europäischen Städten ein Attentat auf das andere folgte und Millionen Menschen aus Syrien sich auf die Flucht nach Europa machten, verdrängten gerade die Kurden den Terror des IS aus ihrer Region. Die für die Welt zur Plage gewordene Organisation begann zu schwächeln.
Am 15. September 2014 griff der IS Kobane, eine von der YPG kontrollierte Stadt an der syrisch-türkischen Grenze, an. Die Belagerung wurde mit der Hilfe einer internationalen Koalition niedergeschlagen. Jeder Sieg der Kurden über den IS ließ die europäische Öffentlichkeit aufatmen.
Zu Heldinnen wurden die kurdischen Kämpferinnen stilisiert, Modedesigner ließen sich von ihren Kampfanzügen inspirieren. Die grün-gelb-roten Symbole der Kurden verdrängten die schwarzen IS-Fahnen. Das demokratisch-autonome System der Kurden, in Rojava errichtet, wurde zum Gegenstand wissenschaftlicher Vorträge.
Offenbar versinkt mit dem Zurückdrängen des IS nicht nur seine Barbarei in der Vergangenheit, sondern auch die Bewunderung der europäischen Öffentlichkeit für die Kurden. Zumindest sieht es aus der Türkei aus ganz danach aus.
Dass die heuchlerischen europäischen Regierungen zu dem Krieg, den die Türkei gemeinsam mit von ihr unterstützten Dschihadisten-Gruppen am 20. Januar 2018 gegen Afrin startete, den einzigen Ort, von dem die Kurden den IS jahrelang hatten fernhalten können, nicht nur schwiegen, sondern weiterhin harmonisch mit der Türkei kooperierten, überrascht nicht. Was allerdings verwundert, ist das Schweigen der europäischen Öffentlichkeit angesichts dieser Scheinheiligkeit.
In der Türkei ist es ein Verbrechen, gegen den Krieg in Afrin zu sein und zu sagen, dass dort Zivilisten umkommen. Es ist eine Straftat zu fragen, ob die Zivilisten in Afrin vielleicht einen Unsterblichkeitstrank eingenommen haben, so dass bei dem seit zwei Monaten geführten Krieg um diese Stadt angeblich kein einziger Zivilist umgekommen sei. Es gibt türkische Rassisten, die sagen: „Zerstören wir Afrin, machen wir es dem Erdboden gleich!“ Die Beweise fordern, als die Nachricht kommt, das Krankenhaus von Afrin sei bombardiert worden und Zivilisten seien ums Leben gekommen. Zu sagen: Ihr seid der beste Beweis dafür ist ebenfalls strafbar.
Über 800 Personen wurden wegen „Propaganda für eine terroristische Vereinigung“ festgenommen, weil sie sich seit Beginn der Militäroperation in Afrin gegen den Kriegszustand aussprachen – einige wurden deshalb inhaftiert. So eingeschüchtert, verharren viele in der türkischen Gesellschaft in Schweigen.
Aber auch die überwältigende Mehrheit der Öffentlichkeit in Europa schaut dem Afrin-Krieg zu, als wäre er eine Episode der Serie „Game of Thrones“. Statt ihre Regierungen zu drängen, den Brand im Nahen Osten zu löschen, wenden sie sich rechten Parteien zu, damit die Geflüchteten nur ja nicht ihre „sauberen, sicheren“ Städte „überrennen“. Die Game of Thrones-Phrase „winter is coming“ gilt bislang nur für die Kurden und die Menschen in Nahost. In Europa ist meteorologischer Frühlingsanfang, Der Winter scheint fern. Da sollen die „IS-Jäger“, also die „Westeros“ und „Weiße Wanderer“, also die AKP-Regierung, doch bitteschön selbst zusehen, wie sie miteinander klarkommen!