Die antikapitalistischen Muslime sind harte Kritiker der AKP-Regierung. Seit den Gezi-Protesten veranstalten sie jeden Ramadan ein Fastenbrechen für alle.
Auf der Höhe von Beşiktaş, dem Istanbuler Viertel am Bosporusufer, liegt der berühmte Abbasağa-Park. Hier versteckten sich im Sommer 2013 während der Gezi-Proteste Aktivisten vor der Polizei, später wurden hier Volksräte und Stadtforen abgehalten. Auf einer Kundgebung der HDP am 4. Mai diesen Jahres verkündete die Partei die Präsidentschaftskandidatur von Selahattin Demirtaş, dem derzeit inhaftierten ehemaligen Ko-Vorsitzenden.
Der Abbasağa-Park ist von politischer Bedeutung für laizistische, demokratische und progressive Gruppen. An diesem Abend im Ramadan versammeln sich Menschen aus allen möglichen Kulturen, Konfessionen und Lebensanschauungen zum Fastenbrechen. Es herrscht geschäftiges Treiben, fast hundert Menschen sind gekommen: Frauen mit Kopftuch, Mädchen in Shorts, junge Rocker mit Piercings, bärtige „Hadschi-Onkel“ mit Gebetskappe und herumwuselnde Kinder.
Die einen verteilen Teller und Besteck auf das meterlange, weiße Tischtuch auf dem Boden, andere treffen an den Töpfen die letzten Vorbereitungen für die Essensausgabe. So unterschiedlich sie auch sind – heute wollen sie gemeinsam das Brot brechen. Als der Ruf des Muezzin erklingt, knien sich die hungrigen Gäste an die Tafel auf dem Boden. Die Gläubigen sprechen ein Gebet, die Nichtgläubigen warten respektvoll das Ende des Rituals ab.
Aus Protest gegen Luxus und Veschwendung
Das erste Ramadan-Picknick fand 2011 in Istanbul statt und wurde durch die Gruppe „Antikapitalistische Muslime“ initiiert, um gegen die in Luxus schwelgenden Muslim*innen zu protestieren. Zwei Jahre später mischte die Bewegung auch bei den Gezi-Protesten mit, die mit dem Ramadan zusammenfielen. Anlässlich der Proteste veranstalteten sie 2013 ihr Fastenbrechen auf der prominenten Einkaufsmeile Istiklal im Herzen von Istanbul, und erlangten dadurch landesweit Bekanntheit.
Mittlerweile ist das konfessionsübergreifende Fastenbrechen im Freien zur jährlichen Tradition geworden. Linsensuppe, Gemüsereis, Salat, Simit, Fladenbrot und Datteln, für alles auf der Tafel sorgen die Veranstalter*innen. Einige Teilnehmer*innen haben selbst zubereitete Speisen mitgebracht und teilen sie mit den anderen Gästen.
Umut Ersin Güler, ein 34-jähriger Theaterschauspieler, ist mit seiner Freundin gekommen. Während er seinen Reis löffelt, erzählt er, dass er Atheist sei und aus Solidarität an dem Fastenbrechen teilnähme. „Die AKP-Regierung diskriminiert Menschen, die im Ramadan nicht fasten und stempelt diese als Verräter ab. Dabei erweckt sie den Eindruck, dass alle Muslime so seien wie sie. Das Ramadan-Picknick ist eine Chance zu zeigen, dass niemand ein Monopol auf den Islam hat.“ Güler kritisiert den Konsumüberfluss in der türkischen Gesellschaft: „Heutzutage sind pompöse Luxus-Tafeln zum Fastenbrechen angesagt. Dabei sollte ein Essen im Ramadan so bescheiden sein wie diese hier“ und deutet mit dem Löffel in der Hand auf die Tafel vor ihm.
„Ihr Gott ist ein anderer Gott“
Güler geift nach einem Börek greift, das ihm eine ältere Frau anbietet. Sie kennen sich nicht und kommen ins Gespräch. Huriye Kara hält in der einen Hand den Teller mit Börekstücken, mit der anderen deutet sie auf ihren Kopf. „Ich schäme mich schon, ein Kopftuch zu tragen, weil man dann glaubt, ich sei wie die“, sagt die 52-Jährige und meint die Muslime, die die AKP unterstützen. „Die Antikapitalistischen Muslime sind für uns eine Alternative zu denen, die seit Jahren regieren und den Islam nur instrumentalisieren.“
Kara ist Hausfrau und beklagt sich, dass man den Koran nicht auf türkisch liest. „Man gibt uns nicht die Gelegenheit, ihn wirklich zu verstehen. Deshalb glauben alle, die Islamauslegung der Regierung sei die richtige.“ Allerdings hat sie wenig Hoffnung, dass sich daran so schnell etwas ändert: „Kinder, die Schulen von islamischen Sekten besuchen und in ihren Wohnheimen leben, lernen nicht, was der wahre Islam ist.“
Als würde sie ein großes Geheimnis enthüllen, senkt Kara ihre Stimme und beugt sich zu den anderen: „Wisst ihr, ihr Gott ist ein anderer als unserer. Es kann nicht sein, dass wir an denselben Gott glauben.“ Murat Kıroğlu gesellt sich mit einem Tee in die Runde. Der 53-Jährige ist in der Baubranche tätig und ebenfalls bei den Antikapitalistischen Muslimen. Er ist Mitglied in der islamistischen Saadet-Partei, aus der Tayyip Erdoğan einst ausstieg, um die AKP zu gründen. Die Kleinstpartei Saadet ist derzeit Teil eines Oppositionsbündnisses gegen die AKP bei den Wahlen am 24. Juni.
„Ich bin hier, weil ich die Menschen an sich respektiere und mich nach Gerechtigkeit sehne“, sagt Kıroğlu. Seiner Meinung nach werden die Muslime in der Türkei seit 16 Jahren ideologisch betäubt. Früher sei die Gesellschaft toleranter gewesen: „Heute misshandelt man Menschen auf der Straße, weil sie es wagen, während des Ramadan zu rauchen. Auch wenn wir gern daran glauben, dass unsere Religion die eines toleranten Propheten ist, schaffen wir es einfach nicht, diese Toleranz auch im Alltag zu zeigen.“
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe