Am 6. April nimmt der neue Flughafen in Istanbul seinen Regelbetrieb auf.
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Uygar Önder Şimşek kurz vor der Urteilsverkündung in Bursa

Dort, wo es brodelt

Der Fotograf Uygar Önder Şimşek wurde wegen „Terrorpropaganda“ verurteilt. Mit Propaganda hat seine Arbeit nichts zu tun. Ein Porträt.

ANDREAS LORENZ, 2018-06-22

Die erste Begegnung mit Uygar Önder Şimşek in Berlin verlief nicht wie geplant: Bevor sein Koffer auf dem Gepäckband des Flughafens Tegel erschien, ging er nach draußen, „um eine zu rauchen“ – ohne zu bedenken, dass er nicht wieder in den Innenbereich zurückkehren konnte. Den Koffer brachten Flughafen-Mitarbeiter Tage später zu ihm nach Hause.

So ist der 31-jährige Fotograf Şimşek: spontan, ein wenig chaotisch, lebensfroh. Vor allem ist er mutig: Vor seiner Ankunft in Deutschland hatte er monatelang den Krieg gegen den „Islamischen Staat“ im Irak und in Syrien fotografiert. Zuvor beobachtete er die Kämpfe im von Kurden kontrollierten Kobane.

Dabei wagte er sich bis an die Frontlinie vor, kroch über Dächer, schlief in Häusern, aus denen nur wenige Stunden zuvor die Kämpfer des IS gehaust hatten. Er selbst ist Kurde, wuchs aber in Istanbul auf und spricht kaum kurdisch. Große Agenturen wie dpa oder AFP veröffentlichten seine Fotos, auch der Spiegel, die New York Times oder der britische Guardian zeigten sie.

Die taz Panter Stiftung und Reporter ohne Grenzen gewährten ihm um die Jahreswende ein dreimonatiges Auszeit-Stipendium, damit er sich nach langer Zeit in Gefahrengebieten erholen und seine Fotos sortieren konnte.

Beweis: ein Beitrag der ‚Washington Post‘ auf Facebook

Seine Arbeit ist ihm, wie derzeit vielen Journalisten in der Türkei, nun zum Verhängnis geworden. Ein türkisches Gericht verurteilte ihn in dieser Woche zu zweieinhalb Jahren Gefängnis. Der Vorwurf: Propaganda für eine Terrororganisation. Als Beweis dienten Fotos von der Kurdenmiliz in Syrien, die Şimşek als Arbeitsproben auf seiner Webseite gezeigt hatte – und ein Facebook-Post: Şimşek hatte einen Betrag der Washington Post geteilt, die ein Foto von ihm veröffentlicht hatte.

Doch mit Propaganda hat seine Arbeit nichts zu tun. Şimşek tat etwas, was viele Kriegsjournalisten tun. Er schloss sich erfahrenen Kämpfern an, die wissen, wann sie sicher eine Straße überqueren können, ohne in einen Kugelhagel zu geraten, und wo in einem Haus versteckte Sprengkörper zu finden sind. In solchen Situationen „muss man höllisch aufpassen“, sagte er im taz-Interview.

Seine Zeit in Berlin nutzte er für Begegnungen mit Freunden und Kollegen, mit dem Besuch von Fotogalerien. Er beschäftigte sich mit der Frage, wie man Opfer fotografieren könne, ohne ihnen die Würde zu nehmen. Şimşek war erschöpft, schlief lange, seinen Fotoapparat rührte er nicht an. Den Studierenden der Fotoschule des Lette-Vereins berichtete er einmal über den Alltag eines Kriegsfotografen – und die waren tief beeindruckt von ihm.

Ursprünglich wollte Şimşek Elektroingenieur werden, das Studium in Istanbul brach er jedoch ebenso ab wie ein Foto-Studium an der Kunsthochschule. Er schlug sich als Saxofonist durch, machte Werbefotos und fotografierte Hochzeiten. Doch bald genügte ihm das nicht. Seit den Protesten um den Gezi-Park in Istanbul 2013 zog es ihn dorthin, wo es brodelte.

Nach seiner Auszeit in Berlin wollte er weiter arbeiten, zurück nach Syrien. Auf dem Istanbuler Flughafen allerdings klickten Anfang Februar die Handschellen. Dass die türkischen Behörden ihn auf ihrer Fahndungsliste hatten, war ihm, der sich nur als Beobachter und Dokumentarist der Kämpfe sah, gar nicht in den Sinn gekommen.

Şimşek will das Urteil anfechten. Er hofft, dass ihn die Richter in der Berufungsverhandlung zu unter zwei Jahren Haft verurteilen. Dann müsste er nach türkischer Praxis wohl nicht ins Gefängnis.

ANDREAS LORENZ, 2018-06-22
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