In den kurdischen Regionen, in denen die HDP bei den Wahlen Stimmen verlor, hatte die rechtsextreme MHP einen deutlichen Stimmenzuwachs. Woran liegt das?
Ein Dorf in den Bergen von Hakkâri, eine Woche vor den Wahlen vom 24. Juni. Die hitzigen Diskussionen der Dörfler über die Wahlen werden immer wieder vom Dröhnen der Kampfhubschrauber übertönt, die über die Berghänge knattern. „Die Hubschrauber machen Wahlkampf“, sagt einer und meint die AKP. „Mit einem Erfolg gegen die PKK wollen sie die Wahlen gewinnen. Deshalb fliegen sie Einsätze in den Kandil-Bergen.“
Ein junger Mann erzählt, in einem Nachbardorf, das zur Miliz der Dorfschützer gehört, sei der Dorfvorsteher vom Militär gewarnt worden: „Wenn es bei euch im Dorf Stimmen für die HDP gibt, verliert ihr alle euren Job.“ Das behauptet er nicht nur, es gibt konkrete Beweise dafür. Ein Video zeigt, wie der AKP-Bürgermeister von Ceylanpınar/Şanlıurfa kommunalen Arbeitern mit Entlassung droht, falls sie nicht seine Partei wählen. Die Aufnahme belegt, dass tatsächlich Drohungen dieser Art kursieren.
Trotz der Repressionen gelang es der HDP, auf 11,7 Prozent zu kommen. Damit näherte sie sich ihrem Erfolg von den Wahlen am 7. Juni 2015 (13,1 Prozent) und errang einen Prozentpunkt mehr als die 10,7 Prozent bei den letzten Wahlen. In konkreten Zahlen bedeutet das, am 1. November 2015 gaben 5.141.494 Menschen der HDP ihre Stimme, bei den Wahlen jetzt am 24. Juni 5.867.378, wobei das Endergebnis noch nicht amtlich ist.
Gegenüber den letzten Wahlen verlor die HDP in Ağrı, Batman, Bitlis, Diyarbakır, Elazığ, Erzurum, Hakkâri, Iğdır, Kars, Mardin, Muş, Siirt, Dersim und Van allerdings auch insgesamt 120.000 Stimmen. Die Partei führt das auf den Druck des Militärs und die Abwanderung aus Gebieten mit häufigen bewaffneten Auseinandersetzungen zurück. Zu den größten Verlusten kam es tatsächlich in Provinzen, wo es seit 2015 heftige Gefechte, Ausgangssperren und später Zwangsumsiedlungen ganzer Viertel gab.
Der HDP-Abgeordnete Mithat Sancar verweist darauf, wie massiv die Repressionen in seinem Wahlbezirk Mardin waren: „In meinem Wahlbezirk waren selbst die Grundbesitzer für die AKP im Einsatz. In einigen Dörfern wurden die Wähler*innen offen davor gewarnt, uns ihre Stimme zu geben. Da soll nun keiner kommen und den Erfolg, den wir trotz alledem hatten, kleinreden. Alle haben gesehen, dass die Wähler*innen trotz massiver Repression weiter zu uns halten“, sagt er.
Es fehlt noch eine vernünftige Erklärung dafür, dass die rechtsextreme MHP in den kurdischen Regionen, in denen die HDP gegenüber den letzten Wahlen Verluste hinnehmen musste, ihr Ergebnis radikal auf 159.000 Stimmen erhöhen konnte. Die HDP ist dabei, die Gründe dafür zu recherchieren. Manche in der HDP meinen, die 143.000 Stimmen, die die AKP in der Region verlor, seien an die MHP gegangen. In Gaziantep beispielsweise büßte die AKP 54.000 Stimmen ein, die MHP hingegen erhielt 41.000 mehr Stimmen als zuletzt. In Adıyaman verlor die AKP 36.000 Stimmen, die MHP gewann 21.600 hinzu.
In Van, wo die HDP ebenfalls Stimmen einbüßte, holte die MHP bei den letzten Wahlen 6.348 Stimmen, jetzt aber 16.237, und konnte ihr Potenzial damit um 155 Prozent steigern. In Muş erhöhte sich die Zahl ihrer Wähler*innen von 2.708 bei den letzten Wahlen 2015 auf 7.050 am 24. Juni 2018, in Diyarbakır von 6.619 auf 11.959, in Mardin von 3.701 auf 10.423, in Şırnak von 3.081 auf 9.366, in Hakkâri von 2.232 auf 5.165 und in Siirt von 2.379 auf 5.311.
Auffällig ist auch die Anzahl der Wähler*innen, die in diesen Regionen am 24. Juni zwar zur Wahl gingen, aber ihre Stimmen nur für die Parlamentswahl abgaben, nicht für die Präsidentschaftswahlen. In Van sollen 15.811, in Muş 5.636, in Diyarbakır 25.517 und in Mardin 11.901 Personen lediglich für die Parteien, nicht aber für einen Präsidentschaftskandidaten gestimmt haben.
Der in Istanbul gewählte stellvertretende HDP-Ko-Vorsitzende Saruhan Oluç sagt, seine Partei überprüfe die Wahlkreise. Dabei habe sich herausgestellt, dass in Kreisen, wo die MHP zuvor gar nicht vertreten war, jetzt Stimmen für sie im Block abgegeben wurden. Das sei nicht normal. In manchen Wahlkreisen, in denen AKP-Stimmen an die MHP gegangen seien, tendierten laut Oluç auch die Angestellten im öffentlichen Dienst überwiegend zu dieser Partei. Oluç führt als Hauptgründe für den Stimmenverlust seiner Partei Repression, Betrug und Verlegung von Wahllokalen an, weist aber auch auf eigene Schwächen hin: Manche Kandidat*innen der HDP seien bei den Wähler*innen auf zu wenig Interesse gestoßen.
Fakt ist, dass die MHP in den kurdischen Regionen, wo sie ihre Stimmenanzahl drastisch erhöhen konnte, im Vorfeld keinen sichtbaren Wahlkampf geführt und den kurdischen Wähler*innen keinerlei Versprechungen gemacht hatte. Deshalb steht zu vermuten, dass die 159.000 Stimmen für diese Partei von den Sicherheitskräften, Angestellten im öffentlichen Dienst, Dorfschützer*innen und Kreisen kamen, die zuvor die AKP gewählt hatten. Zweifellos wird das mit den Wahlen vom 24. Juni entstandene Szenario weiterhin Gegenstand von Diskussionen sein.
Interessant sind auch die Wahlergebnisse in den Gefängnissen. Das Wahlverhalten inhaftierter Wähler*innen darf wohl als wichtiger Hinweis auf die allgemeine Situation im Land gewertet werden. Bei den letzten Wahlen bekam die HDP in Haftanstalten insgesamt 13.277 Stimmen, jetzt erhöhte sie diese Zahl auf 31.420. Die Steigerung lässt auf das Profil der Menschen schließen, die seit November 2015 inhaftiert wurden, und gibt eine Vorstellung davon, wie die Regierung die Menschen in den Gefängnissen behandelt.
Bei den letzten Wahlen 2015 holte die AKP in den Haftanstalten 6.644 Stimmen, am 24. Juni aber nur 5.526. Extrem auffällig ist auch hier wiederum die drastische Steigerung der MHP. 2015 bekam sie von Inhaftierten gerade einmal 3.145 Stimmen, bei den Wahlen jetzt aber 16.360. Hauptgrund hierfür dürfte die Forderung der MHP im Wahlkampf gewesen sein, eine Amnestie für nicht politische Gefangene zu erlassen.
Allen Hindernissen und Repressionen zum Trotz gelang es der HDP, die Zehn-Prozent-Hürde zu überwinden und 67 Abgeordnete nach Ankara zu schicken. Damit konnte sie verhindern, dass die türkisch-nationalistisch-islamistische Regierung trotz ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit auch noch die psychologische Überlegenheit in die Hände bekam.
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe