Manche verlassen das Land. Der Rest braut sein Bier zu Hause und feiert Hauspartys. Resignierte Istanbuler fühlen sich an den Iran erinnert.
Nach der Islamischen Revolution 1979 im Iran äußerten säkulare Stimmen in der Türkei immer wieder die Sorge, das Land könne sich in einen „zweiten Iran“ verwandeln. Das Nachbarland diente als Negativbeispiel für die Entwicklungen in der Türkei.
Mit Eingriffen in den großstädtischen Lebensstil, dem Druck, den die Regierung auf Andersdenkende und Oppositionelle ausübt und angesichts der Wahlergebnisse vom 24. Juni dieses Jahres haben viele, vor allem junge Menschen das Land verlassen. Diejenigen, die bleiben, ziehen sich in die eigenen vier Wände zurück. Statt auszugehen, trifft man sich auf Hauspartys. Die gesellschaftliche Krise sowie die Suche nach Auswegen aus ihr prägen eine ganze Generation der Istanbuler Bevölkerung.
Die 26-jährige Opernsängerin Ronahi Aksoy lebt seit sechs Jahren in Istanbul. Sie fühlt sich nur noch in ihrer kleinen Wohnung wohl. Das kurze, grüne Kleid mit gelbem Blümchenmuster könne sie nur zu Hause tragen, sagt sie und erzählt weiter, dass sich ihr psychischer Zustand zusehends verschlechtere. Während des letzten Jahres ihrer Ausbildung am Konservatorium sei sie noch verzweifelter geworden. Femizide, sexueller Missbrauch, Tierquälerei und die laxe Bestrafung dieser Verbrechen habe sie pessimistischer gemacht. Sie verlasse heute kaum noch das Haus. „In einer Stadt mit 20 Millionen Einwohner*innen quetschen wir uns einige wenige säkulare Wohngegenden. Es sind nicht mehr als fünf Viertel, in denen eine Frau nachts noch auf die Straße gehen kann, ohne belästigt zu werden.“
Ihr kurzes schwarzes Haar fällt ihr ins Gesicht. Während sie es mit einer Kopfbewegung zurückwirft, spricht sie weiter, ohne den Blick von ihrem Gegenüber abzuwenden. In ihrem Umfeld kenne sie keine Person, die keine Antidepressiva nehme. Tatsächlich greifen ihre Freund*innen mittlerweile sogar zu Drogen: „Selbst diejenigen, bei denen man meinte, dass sie so etwas nie tun würden, haben damit angefangen. Vielleicht ist das eine Art Flucht. Jede*r denkt darüber nach, sich Abstand zu verschaffen. Die meisten Leute suchen nach einer Gelegenheit, aus der Türkei abzuhauen.“
Angst vor Terroranschlägen
Der umfangreichen Migrationsanalyse des Türkischen Statistikamtes (TÜIK) zufolge ist der Anteil derer, die die Türkei 2017 verlassen haben, um 42% gegenüber dem Vorjahr angewachsen.
Die Zahl der Auswander*innen betrug 2017 über 250.000 Personen, allein aus Istanbul waren es über 70.000, die der Stadt den Rücken zuwandten. Die meisten unter ihnen sind 24 bis 29 Jahre alt. Junge Menschen verlassen das Land also, sobald sie ihren Schul- oder Universitätsabschluss erlangen. Seit der Islamischen Revolution von 1979 bis heute verzeichnet der Iran einen ähnlichen Trend. Junge Leute möchten nicht unter einem derart zermürbendem, gesellschaftlichen Druck leben.
In der Straße der Frühstückshäuser im Istanbuler Stadtviertel Beşiktaş erinnert wenig an vergangene Tage. Es gibt spürbar weniger Arbeit. Der 38 Jahre alte Betreiber des Siyah Cafés, Tuncer Döğer, hat jetzt viel Zeit, um mit seinen Freund*innen Backgammon zu spielen.
„Vor einigen Jahren waren an den Wochenenden hier im Ausgehviertel Tausende von jungen Leuten“, erzählt Döğer. Den Angriff auf den Nachtclub Reina in der Neujahrsnacht 2017, bei dem 39 Menschen getötet wurden und zu dem sich anschließend der sogenannte Islamische Staat bekannte, sieht er als Wendepunkt: „Seit dem Anschlag meiden die Leute die Straßen. Die jungen Leute, die hier in der Gegend wohnten, trauten sich danach lange nicht aus den Häusern.“
Für die säkulare Bevölkerung des Stadtteils stellte das Attentat einen Angriff auf den eigenen Lebensstil dar. Nun kommen nur noch wenige Kund*innen zum Café Siyah. Dafür haben die Hauslieferungen zugenommen.
Döğer schildert, dass er ein Angebot einer Firma für Internetbestellungen und Hauslieferungen zunächst nicht sehr sinnvoll gefunden habe: „Das war verblüffend. Ich dachte mir: wer bestellt schon Menemen (Gemüseomelett, Anm. d. Red.) nach Hause?“ Doch seine Verblüffung sollte noch wachsen: „Als wir begannen mit der Firma zusammenzuarbeiten, gingen direkt Bestellungen für Menemen und andere Omelettes ein, Dinge also, die zu Hause schnell zuzubereiten sind.“
In den etwa 30 Frühstücksläden in der Hamam-Straße im Istanbuler Stadtteil Beşiktaş ist die Situation ähnlich. Fast alle liefern mittlerweile online aufgegebene Frühstücksbestellungen nach Hause. Tuncer Döğer hat sich hierüber nach eigenen Angaben mehrfach den Kopf zerbrochen und am Ende eine Antwort für sich gefunden:
„Mit Faulheit allein ist das nicht zu erklären. Verzweiflung bringt eine gewisse Lethargie und Enthaltung mit sich.“ Von einer Jugend, die Angst vor der Straße habe, könne man nicht erwarten, dass sie zum Vorreiter eines Wandels werde.
Zu Hause ist es sicher und günstig
Der 28-jährige Social Media-Experte Taşkın Sağlam arbeitet an seinem neuen Vorrat: „Jetzt müssen wir einen Monat warten“, führt er aus, „die Fermentation dauert zwei Wochen. Dann fülle ich das Ganze mit etwas Zucker in saubere Flaschen und warte noch einmal zwei Wochen für die richtige Kohlendioxidsättigung.“
Erst seit einem Jahr braut er zu Hause Bier. „Ich mache das weniger aus Vergnügen als aus Geldknappheit“, erzählt er. Der Weizensaft schmeckt ihm bei der Kostprobe. Während er seine Brille putzt, sagt er: „Die Wahlen am 24. Juni waren in jeder Hinsicht ein Bruch. Was sollen wir denn tun, wenn nicht trinken?“
Sağlam wird depressiv. Erst hat er seine gesamten Social Media-Konten geschlossen, dann igelte er sich zu Hause ein: „Ich wollte niemanden mehr sehen. Die Niedergeschlagenheit hat seitdem weiter zugenommen, für den Moment ist das selbstgebraute Bier die beste Alternative.“
„Nicht dem Iran gleichen“
Es ist schwer den Iraner Samed M. von seinen türkischen Altersgenoss*innen zu unterscheiden. Er trägt eine schwarze Sonnenbrille, ein weißes T-Shirt und dunkle Jeans, hat kurzes Haar und einen schwarzen Stoppelbart. Vor zwei Jahren ist er aus der iranischen Hauptstadt Teheran nach Istanbul gekommen und studiert Soziologie an einer Privatuniversität.
Wenn er Türkisch spricht, fehlen dem 23-jährigen Samed M. manchmal die richtigen Worte: „Da wir in einem repressiven Regime groß geworden sind, haben wir nicht gelernt, Dinge offen auszusprechen. Wir wussten nämlich nicht genau, was wir uns damit einhandeln würden. Was den Iran betrifft, herrscht viel Halb- und Unwissen vor.“
Er vergleicht die jungen Leute beider Länder: „Unsere Lebensstile, unsere Träume, die Perspektiven ähneln sich sehr.“ Es gebe aber auch Unterschiede: „Alles, was hier offen ausgelebt wird, passiert im Iran zumeist hinter verschlossenen Türen. Auf Hauspartys passiert all das, was gesetzlich verboten ist.“ Im Iran sei es „verboten, öffentlich zu flirten, es stehen schwere Strafen darauf aus“. Auch wenn der soziale Druck in der Türkei durch konservative Nachbarn ausgeübt wird, gibt es bislang keine gesetzliche Regelung zum Verbot solcher Kontakte.
„Die jungen Leute gehen“
Nevşin Mengü, eine der bekanntesten Nachrichtenmoderatorinnen in der Türkei, war über ein Jahr lang als Korrespondentin für einen privaten Fernsehsender in Teheran tätig. Mengü berichtet, dass sie in der Türkei oft gefragt worden sei, ob „wir zu einem zweiten Iran werden“. Sie ist allerdings der Meinung, dass diese Frage längst irrelevant sei, da „die Türkei in vielerlei Hinsicht eine Art Iran geworden ist“.
Der populistische Ton, den die Regierung nach den Gezi-Protesten von 2013 aufnahm, sei inhaltsleer, aber stärke die eigene Basis, sagt Mengü. Hier sieht sie Ähnlichkeiten mit dem Gründungsdiskurs des islamistischen Iran: „Das iranische Regime füllt seit Jahren die leeren Mägen der wenig gebildeten Massen, die genau diesem Regime treu bis in den Tod sind. Und das sind sie wegen leerer Parolen wie ‚Embargos kriegen uns nicht klein‘ oder ‚Wir sind die größten auf der Welt, der Westen fällt vor uns auf die Knie.‘“
Mengü glaubt, dass die jungen Menschen von dieser Situation am stärksten betroffen seien: „Die Bildung und das gesellschaftliche Leben der Jugendlichen vollzieht sich innerhalb der Grenzen der Fantasie und Weltanschauung eines einzelnen Mannes.“