Die Cumhuriyet hat eine neue Leitung bekommen – und viele Mitarbeiter verlassen die Zeitung. Aydın Engin, ein Cumhuriyet-Veteran, spricht über die Hintergründe.
2016 wurden Verfahren gegen Autoren und Leiter der Cumhuriyet eingeleitet. Die Vorwürfe: „Unterstützung von Terrororganisationen“ und „Änderung der Blattlinie“. 12 Personen, darunter auch der Chefredakteur Murat Sabuncu, wurden verhaftet. Nach einem zweijährigen Gerichtsprozess verurteilte das Gericht die Mitarbeiter der Zeitung zu Haftstrafen zwischen zwei und sieben Jahren.
Am 7. September fiel ein weiterer Richterspruch: Die vergangenen Vorstandwahlen der Cumhuriyet-Stiftung, Eigentümerin der Zeitung, sollten wiederholt werden. Bei den Neuwahlen wurde Alev Coşkun zum Stiftungspräsidenten gewählt. Coşkun hatte zuvor im Cumhuriyet-Prozess für die Staatsanwaltschaft ausgesagt und dazu beigetragen, dass die Cumhuriyet-Mitarbeiter verhaftet wurden und Haftstrafen erhielten.
Mit der Wahl von Coşkun musste Chefredakteur Murat Sabuncu seinen Posten räumen. Knapp 25 Reporter, Redakteure und Autoren trennten sich von der Zeitung. Über diese Entwicklungen sprachen wir mit dem 78-jährigen Aydın Engin, der die Zeitung während des Gerichtsprozesses gegen die Cumhuriyet leitete.
taz gazete: Als einige Leiter und Autoren der Cumhuriyet im Gefängnis saßen, haben sie die Zeitung geführt. Was fühlen Sie angesichts der jetzigen Lage.
Aydın Engin: Die Cumhuriyet veröffentlichte eine Nachricht über die Lastwagen des türkischen Geheimdienstes MIT, die im Mai 2015 militärisches Gut an Djihadisten in Syrien lieferten und von der Gendarmerie angehalten wurden. Seit diesem Tag sehen wir uns vor einer Regierung, die mit verschiedenen Mitteln versucht, die Zeitung zum Schweigen zu bringen. So haben sie versucht über den Rechtsweg die Wahlen der Cumhuriyet-Stiftung für ungültig zu erklären. Manche unserer Freunde haben sie in das Gefängnis gesteckt. Auch innerhalb der Zeitung gab es Menschen, die uns nicht wohlgesinnt waren. Manche von ihnen haben vor Gericht ausgesagt. Es macht mich traurig, dass diese Menschen nun die Leitung der Zeitung übernommen haben. Manchmal macht es mich auch wütend.
Wieso konnten Sie sich mit denen, die nun die Leitung übernehmen, nicht verständigen?
Ein Kompromiss kam professionell und moralisch nicht in Frage. Diejenigen, die heute die Leitung innehaben, Alev Coşkun und seine Männer, sind diejenigen, die vor Gericht gegen unsere Freunde ausgesagt haben. Außerdem sind das Leute, die extrem nationalistisch, ultrakemalistisch eingestellt sind. Das heißt etwa, dass sie in der Kurdenfrage eine militärische Lösung bevorzugen und die Beziehungen zur EU als westlichen Imperialismus abtun. Heute sieht es danach aus, dass die Cumhuriyet an Kraft verloren hat – auch wenn sie noch nicht endgültig stillgelegt wurde.
Manche bezeichnen den Leitungswechsel als „Putsch“. Finden Sie diese Bezeichnung angemessen?
Nein, es gab keinen Putsch oder dergleichen. Ja, die Gerichte gehören Erdogan, sie sind nicht unabhängig. Aber so oder so: Die Vorstandswahlen der Stiftung wurden wegen eines Gerichtsentscheids wiederholt. Und bei den Neuwahlen hat die Zahl derer überwogen, die auf einer ideologischen Linie zusammengekommen und gut organisiert waten.
Um auf den Punkt zu kommen: Wem gehört die Cumhuriyet jetzt?
Die Cumhuriyet ist eine Zeitung die nicht nur glorreiche, sondern auch dunkle Zeiten hinter sich hat. Zum Beispiel gibt es die Geschichte von dem Foto des Dichters Nazım Hikmet, von dem manche sagen, dass es gedruckt wurde, damit Menschen darauf spucken können. Es gab Titelseiten auf denen das faschistische Italien gegrüßt wurde. Solche Auf und Abs gibt es in der Geschichte von Zeitungen. Die Hochs und Tiefs von Cumhuriyet fallen aber heftiger aus. Die Spaltung zwischen Nationalisten und Liberalen gab es in jeder Phase der Blattgeschichte. Als ich in den 1990ern als Textchef gearbeitet habe, habe ich das auch erlebt. Ilhan Selçuk, der die Zeitung von 1991 bis 2010 geleitet hat, war jemand, der es schaffte, ein Gleichgewicht zwischen beiden Lagern herzustellen. Nachdem er verstorben war, verhärteten sich die Fronten wieder.
In einer Erklärung der neuen Leitung findet sich der Ausdruck „Die Republik von Atatürk“. Sich einerseits als Atatürk-Unterstützer zu definieren und andererseits mit Erdogan zu kooperieren, der als Bedrohung für Atatürks Türkei gesehen wird – ist das kein Widerspruch?
Natürlich. Aber sprechen wir von den Atatürkisten der 1930er Jahre oder von jenen, die sich dem Westen zugewandt haben und eine moderne Türkei erschaffen wollen? Eigentlich wollen sie mit der Erklärung über uns sagen: „Das sind keine Atatürkisten, sie haben das Blatt von Atatürks Linie abgebracht.“ Für mich ist das ein inhaltsloser Ausdruck. Sie benutzen ihn nur, um uns in Verruf zu bringen.
Denken Sie, Staatspräsident Erdogan ist mit der neuen Leitung der Cumhuriyet zufrieden?
Das ist er. Als die AKP 2002 an die Macht kam, war die Gülen-Gemeinde mit ihr alliiert. Viele Verbrechen haben sie gemeinsam begangen. Erdogan sagte selbst, dass er die sogenannten Ergenekon-Prozesse unterstütze, die von Gülen-Staatsanwälten wegen angeblicher Putschpläne eingeleitet wurden. Ohne das Erlaubnis von Erdogan wäre es nicht möglich gewesen, die Generäle zu verhaften. Nachdem aber der Streit zwischen Erdogan und der Gülen-Gemeinde eskalierte, hat die Regierung neue Verbündete gebraucht. Die Generäle, die im Rahmen der Ergenekon-Prozesse verhaftet wurden, wurden freigelassen und in Schlüsselpositionen eingesetzt. Diese Leute stehen jetzt Erdogan nahe. Wenn man all das zusammenfügt, kann man auch sagen, dass die neue Cumhuriyet-Leitung eine Perspektive mit Erdogan teilt.
Wird die Cumhuriyet jetzt Leser verlieren?
Die gegenwärtige Zahl der Exemplare, die in den Kiosken verkauft werden, liegt bei 40.000. Ich denke nicht, dass diese Zahl sinken wird. Diejenigen, denen die Blattlinie und die Zeitungspolitik wichtig sind, diejenigen, die jetzt sagen „Wir haben die Zeitung verloren“ sind die knapp anderthalb Millionen Menschen, die die Cumhuriyet online lesen. Wenn es eine Abnahme geben sollte, dann sicherlich bei den Online-Lesern. Auch wird die Cumhuriyet eine jüngere Leserschaft nicht mehr ansprechen können.
Gibt es Artikel, die veröffentlicht wurden als sie die Zeitung leiteten und die sie heute bereuen?
Klar gibt es das. Zum Beispiel bei der Präsidentschaftswahl. Da haben wir dem CHP-Kandidaten zu viel Aufmerksamkeit geschenkt – nur weil er gegen Erdogan kandidierte. Ich bin ein Journalist, der Muharrem Ince und seine politische Linie schon lange kennt. Es war nicht richtig, dass wir ihn dermaßen hochgehalten haben.
Im Cumhuriyet-Prozess wurden Haftstrafen gegen Autoren und leitende Personen gesprochen. Auch gegen Sie. Derzeit warten Sie auf den Entscheid eines höheren Gerichts. Sollten die Haftstrafen vollzogen werden, wie titelt die Cumhuriyet dann?
Glauben Sie mir, das frage ich mich auch. Ich denke, sie werden nicht so tief sinken. Vermutlich werden sie so etwas sagen wie: „Die haben unsere Freunde eingesperrt“. Aber jener Alev Coşkun, der für die Staatsanwaltschaft ausgesagt hat, ist jetzt Präsident der Stiftung. Deshalb würde ich mich auch nicht wundern, wenn sie dann „Die Gerechtigkeit hat gesiegt“ titeln.
Aus dem Türkischen von Volkan Ağar