Im ersten Weltkrieg wurde der 19-jährige Georg Steinbach nach Istanbul geschickt. Nun sind seine Memoiren als Buch erschienen.
„An den Prinzessineninseln vorbei, erreichten wir am späten Nachmittag Istanbul. Es war ein bewegender Moment, als wir an Land gingen und ich fast auf dem Meter genau dort stand, wo ich damals als Soldat stand. Das war vor 45 Jahren!“, so erinnerte sich Georg Steinbach an seine Zeit in Istanbul als deutscher Rekrut im ersten Weltkrieg. Bei einer zweiten und letzten Reise an den Bosporus im Jahr 1963 ist die Ankunft für ihn ein bewegender Moment, den er in einem Brief an seinen ehemaligen Arbeitgeber Karl Levi festhält.
Der Urenkel von Georg Steinbach, Ruben Gallé, las den Briefwechsel mit Levi und bekam erst so einen Eindruck seines 1975 verstorbenen Urgroßvaters. In dessen Nachlass fanden sich aber auch persönliche Erinnerungen, die Georg Steinbach, nach seinem fünfmonatigen Einsatz zurück in der rheinhessischen Provinz, festgehalten hatte. „Ich bin fasziniert davon, dass sich diese Erinnerungen in der Familie erhalten haben und ich nun lesend mit meinem Urgroßvater nach Konstantinopel reisen kann“, sagt sein Urenkel. Zusammen mit dem stellvertretenden Direktor des Orient-Instituts in Istanbul, Richard Wittmann, hat Gallé die Memoiren nun als Buch herausgegeben.
Georg Steinbachs Erinnerungen führen zurück in das Jahr 1918. Deutschland führte die Mittelmächte im Ersten Weltkrieg und wurde seit November 1914 vom Osmanischen Reich mit den Deutsch-Asien Korps, der sogenannten Pascha-Armee, vor Ort unterstützt. Im Alter von nur 19 Jahren hatte sich der angehende Textilhändler Steinbach freiwillig zum militärischen Einsatz im damaligen Konstantinopel gemeldet.
Das Osmanische Reich kannte er bislang nur aus Karl May-Romanen, dem Geographieunterricht und Kinofilmen. Istanbul war eine Art Sehnsuchtsort für den Rekruten, der militärische Einsatz in der Türkei eine seltene Reisemöglichkeit. Während der Soldatenalltag an der Westfront von großem Leid, Gaskrieg und Schützengräben geprägt war, musste Steinbach während seines Aufenthalts in Istanbul nie an die Kriegsfront. Er nutzte die Zeit, um in das Treiben der Metropole einzutauchen.
Jeden Sonntag hatte er frei und machte Ausflüge in die Umgebung. „Jetzt bin ich oben in Pera! Man meint in einer Großstadt Deutschlands zu sein, denn hier ist das Europaerviertel. Die Banken, die Geschäfte, die Lebensmanieren, alles ist auf das moderne Europa gestimmt“, schreibt er über die Metropole.
Steinbachs Betrachtungen sind nicht frei von Klischees eines märchenhaften Orients, in denen sich exotistische Fantasien widerspiegeln. Istanbul wird zur Projektionsfläche des jungen Soldaten. So schreibt er über einen Besuch auf dem Großen Basar: „Dort nun ist der „grande Bazar“! In jedem von uns sind wohl die Märchen aus tausend und einer Nacht lebendig.“ Auch Überlegenheitsgefühle mischen sich in seine Aufzeichnungen, etwa wenn er von „diesen kleinen braunen Kerle[n]“ spricht.
Damit bewegt sich Steinbach im Diskurs seiner Zeit, der über die Konstruktion des Anderen seine eigene überlegene Rolle festigt. „Die Vorstellungswelt meines Urgroßvaters war sicherlich geprägt von dem damals in Deutschland und Europa vorherrschenden klischeebeladenen Bild des Orients als exotischem Sehnsuchtsort zwischen Sinnlichkeit und Dekadenz“, schreibt der Urenkel in dem Vorwort der kürzlich veröffentlichten Memoiren.
Zugleich sind Steinbachs Aufzeichnungen von Interesse für die ihm unbekannten kulturellen Gebräuche und unterschiedliche Ethnien geprägt. Bei einem Besuch in einem Sufi-Kloster beschreibt er akribisch über mehrere Seiten hinweg den Tanz der Derwische. Auch den muslimischen „Ramasan“ nimmt er in seine Erinnerungen auf und vergleicht ihn mit der christlichen Weihnacht: „Auch bei uns zu hause feiern wir ein Fest bei dem uns die Lichter frohe Zuversicht und Freude ins Herz’e strahlen!“
Der Historiker Richard Wittmann leitet das Forschungsprojekt „Selbstzeugnisse als Quellen zur Geschichte des späten Osmanischen Reiches“ im Orient Institut, er hat sich wissenschaftlich mit dem Tagebuch des Soldaten beschäftigt. „Was ich ganz erstaunlich finde, ist die Offenheit gegenüber anderen Religionen, sei es der Islam oder auch das orthodoxe Christentum“, sagt er.
Während seines Aufenthalts hat Steinbach auch ein paar Wörter Türkisch aufgeschnappt. Er kennt „Eckmeck“, weil es seine Aufgabe war, Brot an die Soldaten zu verteilen – „Da heißt es aufgepasst, dass einer keinen Schwindel betreibt“, schreibt er. Auch viele Begriffe, die ihm auf den Straßen Istanbuls begegnen, behält er im Kopf: „Es kommt der „Eckmecktschi, „Joghurttschi“, „Kaffeetschi“, „Melonentschi“ und all die anderen „Tschis“ und alle handeln – handeln und haben ihr Auskommen.“
Obwohl seine Erinnerungen an den meisten Stellen eher einem orientalistischen Reisebericht gleichen, muss der junge Mann durchaus auch in Istanbul etwas vom Kriegsgeschehen mitbekommen haben. Im Jahr 1918 war ein brutaler Umgang mit Minderheiten und Soldaten auch in der Metropole erfahrbar. Die wurden unter dem Schlachtruf des Djihads, des islamischen Krieges, in die letzten Gefechte geschickt.
Steinbach berichtet allerdings lediglich von Verwundeten, die nach Istanbul gebracht wurden. „Gelegentlich gab es auch Angriffe von englischen Flugzeugen und man hatte Angst vor der russischen Flotte, aber direktes Kampfgeschehen bleibt ihm erspart. Was er gesehen haben muss, hat er aber sehr schonend in das Tagebuch eingeführt“, erzählt Wittmann. Über den Völkermord an den Armeniern, der im Osmanischen Reich nur zwei Jahre zuvor verübt worden war, ist in Steinbachs Aufzeichnungen nichts zu lesen.
Teilweise waren die Tagebücher oder Erinnerungen auch mit dem Ziel geschrieben, dass es die Familie eines Tages lesen würde. Aus dem Grund spart Georg Steinbach gewisse Details komplett aus, wie zum Beispiel das Thema Geschlechtskrankheiten oder das direkte Erleben von brutalen Szenen. „Angesichts der Tatsache, dass Geschlechtskrankheiten unter deutschen Soldaten in Istanbul ein Gesundheitsproblem darstellten, müsste er auch davon gewusst haben“, sagt Wittmann.
Doch auch von Gewalt durfte er nicht nur indirekt etwas mitbekommen haben. Etwa, wenn er schreibt: „Da erzählt uns ein Kamerad, daß drüben am Taximplatz die fahnenflüchtigen Türken gehängt wurden. Ich sehe im Kasernenhof tatsächlich viele rekrutierte Menschen, die zu zweien mit Handschellen aneinander gefesselt sind. Sie sollen Soldaten werden.“ Bei diesen Passagen hinterfragt Wittmann aber, ob Steinbach sie tatsächlich selbst erlebt hat oder nur vom Hörensagen wusste.
Wie kann ein solches Selbstzeugnis dann eingeordnet werden, wenn Fiktion und Realität nicht scharf zu trennen ist? Wittmann plädiert dafür, die Schriften auch oder vor allem danach zu untersuchen, was nicht geschrieben wird und ihnen dann eine Stimme in der Wissenschaft zu geben. Während bisher Selbstzeugnisse vor allem für die Rekonstruktion spezifischer Ereignisse wie Verfolgung und Massenmord herangezogen wurden, sei es ein Anliegen des Projekts, Selbstzeugnisse generell als Quellen für die geschichtliche Forschung zu verwenden.
Zwar gibt es auch schriftliche Erinnerungen von höheren Militärs, aber das Interesse an Memoiren von alltäglichen Erzählungen wächst. Denn manchmal sind es genau die Schilderungen von Menschen, die nicht in die Geschichte eingegangen sind, die große Ereignisse, wie den Ersten Weltkrieg, nahbar machen und zum Nachdenken bewegen.