Yavuz Ulaş wurde aus dem Gefängnis entlassen, doch er war nicht frei. Also überquerte er einen reißenden Fluss und kaufte einen gefälschten Pass.
An einem kühlen Herbstabend im Oktober 2017 öffneten sich für Yavuz Ulaş* die Tore der Istanbuler Haftanstalt Silivri. Sein älterer Bruder holte ihn ab. Bevor er ihn umarmte, musterte er ihn von Kopf bis Fuß. In den sechs Monaten Haft hatte Ulaş mindestens zehn Kilo abgenommen, seine Haare waren grau geworden, die Wangen eingefallen. Er sah aus wie ein 38-jähriger Greis.
Ulaş freute sich auf seine dreijährige Tochter Maya.* Doch auf dem Weg nach Hause konnte er weder seiner Tränen noch seiner Ängste Herr werden. Denn so wenig er wusste, warum er verhaftet worden war, so schleierhaft war ihm, warum er nun plötzlich freikam.
Es gab keine Garantie dafür, dass er nicht eines Nachts wieder aus dem Haus geholt werden würde. Mitglied einer Terrororganisation zu sein, wurde seit dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 vielen Oppositionellen vorgeworfen. Die Staatsanwälte machten Ulaş die gleichen Vorwürfe wie der deutschen Journalistin Meşale Tolu.
Die Anklageschrift: „Hielt sich in Beşiktaş auf, um an der auf dem Taksimplatz geplanten Kundgebung zum 1. Mai teilzunehmen, die von der Präfektur verboten worden war; nahm am Trauerzug eines in Rojava im Kampf gegen den IS getöteten sozialistischen Jugendlichen teil, mit Start am Haus eines Verwandten.“
Als er in seiner nur wenige Quadratmeter großen Zelle die Prozessakte studierte, fragte er sich: „Wie kann die Teilnahme an einem weltweit begangenen Feiertag und an der Beerdigung eines Menschen aus deinem Viertel Grund für eine Verhaftung sein?“
Die erste Nacht in der Freiheit hielt er seine kleine Tochter im Arm. Über den Ort, an dem er festgehalten worden war, erzählte er ihr die schönsten Märchengeschichten. Am nächsten Tag ging er zur Arbeit. Vor der Haft hatte er Geschäfte abgeklappert und Getränke und Chips verkauft. Die Kolleg*innen freuten sich zwar, Ulaş wiederzusehen, doch ihre Nervosität blieb ihm nicht verborgen. Tatsächlich waren vor Kurzem Polizisten da und hatten den Chef gewarnt: „Falls Ulaş kommt, stellst du ihn nicht wieder ein, er ist ein Terrorist.“
Ulaş lief auf die Straße hinaus. Als er sich eine Zigarette anzündete, tauchte ein grauer VW auf. Einer der vier Insassen rief ihm aus dem offenen Fenster zu: „Hey Yavuz, erkennst du mich nicht, ich bin Ahmet.“ Ulaş erkannte die Stimme und den Wagen. Als er nach der Razzia in seiner Wohnung vor einem halben Jahr auf das Polizeipräsidium gebracht worden war, hatte dieser Mann ihn verhört. Er versuchte, ihn als Spitzel anzuwerben, und fragte ihn nach den Namen der Sozialist*innen im Viertel.
Die vier Polizisten stiegen aus, zeigten Ulaş ihre Pistolen und forderten ihn auf einzusteigen. Einer brüllte ihn an: „Hast du etwa geglaubt, du bist davongekommen, weil du aus dem Knast raus bist, Mann!“ Auf dem Rücksitz flogen Beschimpfungen, Bedrohungen und Fäuste durcheinander. Dann warfen sie Ulaş aus dem Wagen, er blutete aus Mund und Nase. Er weinte und begriff: Sie würden ihn nicht in Ruhe lassen, er saß in einem offenen Gefängnis.
Am nächsten Tag hielt ein Ford neben ihm. „Was bist du heute viel herumgelaufen“, höhnte einer der Polizisten. Am selben Tag beschloss Ulaş, nach Deutschland zu gehen. Nur wie? Das Gericht hatte ihm die Ausreise untersagt. Ulaş entschloss sich zu fliehen. Er machte sich auf nach Aksaray, dem Istanbuler Viertel, in dem viele Menschen aus Syrien leben und wo viele Fluchthelfer Kund*innen suchen. Er fragte sich durch und fand Bilal, einen hageren, nicht sehr groß gewachsenen Menschenschmuggler.
Bilal redet schnell und schaut sich ständig um, Vertrauen flößt er nicht ein. Doch welche Alternative hat Ulaş? Bilal versichert ihm, er schaffe Woche für Woche zwölf Personen über den Evros, den Grenzfluss zwischen Griechenland und der Türkei. Sie einigen sich auf einen Preis von 2.500 Dollar.
In den ersten sechs Monaten 2018 versuchten laut einem Bericht von Ärzte ohne Grenzen mehr als 10.000 Menschen, über den Evros nach Griechenland zu gelangen. Wegen der starken Strömung ertranken zahlreiche Menschen, darunter Frauen und Kinder. Die genaue Zahl ist unbekannt.
Dann ist der Tag da. Ulaş macht sich mit Bilal und vier weiteren Personen von Istanbul auf den Weg. Auf der fast dreistündigen Autofahrt nach Edirne, der Stadt an der griechischen Grenze, lernt er seine Schicksalsgenossen kennen: Zwei Mitglieder der Gülen-Bewegung, ein Syrer auf der Flucht vor dem Krieg in seinem Land und ein wegen PKK-Mitgliedschaft zu drei Jahren Haft verurteilter Kurde aus der Türkei. Ulaş sitzt hinten, immer wieder wandert sein Blick zu dem Schlauchboot im geräumigen Stauraum des Wagens. Er denkt: „Dieses Boot bringt mich heute Nacht in die Freiheit oder in den Tod.“
Weit nach Mitternacht erreichen sie das Grenzdorf Tayakadın. Auf Bilals Anweisung dürfen die Reisenden nur eine kleine Tüte mitnehmen, höchstens ein T-Shirt, ein Paar Strümpfe. Sie machen sich auf den beschwerlichen Fußweg zur Grenze. Bilal beobachtet eine Grenzpatrouille, nach ein paar Minuten des Schweigens befiehlt er: „Nicht reden! Nicht zurückbleiben! Ihr lauft, bis ich stehenbleibe.“
Ulaş rennt los, zehn Minuten lang. Am Ufer angekommen, pumpt der Schlepper Bilal das Boot auf und lässt es zu Wasser. Zwei Mann und Bilal legen sich in die Ruder, um die 30 bis 40 Meter über den reißenden Fluss zu überqueren. Ein paar Mal droht das Boot zu kentern. Nach 15 Minuten Kampf erreichen sie das Dorf Nea Vyssa am griechischen Ufer.
Am nächsten Tag setzt Bilal die vier in den Zug nach Athen. Ulaş schläft ein. Drei Stationen vor der Hauptstadt weckt ihn eine Stimme in einer ihm unbekannten Sprache. Zwei Polizisten stehen vor ihm. Die Reise endet in einer kleinen Zelle mit 50 Menschen aus Syrien, Afghanistan und Pakistan. Drei Tage verbringt er hungrig und durstig darin, es gibt nicht einmal ein Bett.
Dann nimmt die Polizei seine Aussage auf, ein Dolmetscher übersetzt. Ulaş erzählt seine Geschichte und sagt: „Ich will in Deutschland Asyl beantragen.“ Die Griechen lassen ihn laufen. In Athen gelingt es Ulaş, Baran ausfindig zu machen, einen weiteren Fluchthelfer, dessen Namen er von Bilal hat. Baran ist Kurde aus Syrien und spricht gebrochen Türkisch. Als griechischer Staatsbürger kann sich der großgewachsene Mann frei bewegen.
Zwei Alternativen bietet er Ulaş an: „Entweder reist du auf der Straße nach Deutschland weiter oder im Flugzeug. Ich kann dich unter einem Lkw verstecken, aber auf die Art sind schon viele gestorben. Der Flug ist teurer, aber so gut wie sicher.“
Für einen griechischen Pass zahlt Ulaş 6.500 Dollar. Er rasiert sich den Bart ab und frisiert sich wie der eigentliche Besitzer des Passes. Er muss dem Mann auf dem Foto so ähnlich sein wie möglich. Problemlos gelangt er ins Flugzeug. Er fühlt sich frei. Mit dem Traum von einem neuen Leben läuft er zum Ausgang. Bis zur Passkontrolle in Stuttgart.Er reicht dem Polizisten den Ausweis des Mannes, von dem er nicht einmal den Namen kennt. Das Herz schlägt ihm bis zum Hals. Um sich nicht zu verraten, lässt er betont lässig den Blick umherschweifen.
Der Beamte wirft einen Blick auf Ulaş, einen auf den Ausweis. Und noch einen. Er scannt den Ausweis. Da ertönt der Alarm, der Ulaş den Boden unter den Füßen wegzieht. Der Ausweis, für den er 6.500 Dollar hingelegt hat, ist als gestohlen gemeldet. Der Beamte ruft Kollegen, die ihn abführen. Ulaş spricht weder Englisch noch Deutsch, nur drei Wörter bringt er heraus: „Kurdisch, Türkei, Politik.“
Gerade dachte er, er habe es geschafft, da findet er sich in einer Zelle wieder. Sechs Wochen teilt er sie sich mit einem Italiener und einem Deutschen, die er nicht kennt und deren Sprachen er nicht spricht. Er verträgt das deutsche Essen nicht, Nudeln mit Soße ist in seinen Augen Hundefraß. Am meisten vermisst er eine Zigarette und heißen Tee. 23 Stunden am Tag ist er eingesperrt, die eine Stunde Hofgang läuft er frierend herum. Bei jeder Runde sagt er sich: „Dagegen war es in Silivri paradiesisch.“
Sechs Wochen später wird er nach Neuffen bei Stuttgart in ein Übergangslager, eine ehemalige Fabrikanlage, verlegt. Über seinen Asylantrag haben die deutschen Behörden bis zum Erscheinen dieses Textes nicht entschieden. Ulaş ist einer von 5.252 Menschen aus der Türkei, die in den ersten sechs Monaten 2018 in Deutschland Asyl beantragten. Das waren 28 Prozent mehr als im Vorjahr. Bis Ende April genehmigten die Behörden nur 42 der Anträge.
Vor Kurzem hat er eine Arbeitserlaubnis für drei Jahre und einen Ausweis bekommen. Seit dem 1. Oktober darf er arbeiten. In einem Feinkostladen bereitet er Oliven, Käse und andere mediterrane Spezialitäten zu. Jeden Tag fährt er von Neuffen zwei Stunden zur Arbeit, zwei Stunden zurück.
„Ich möchte arbeiten und am Leben teilnehmen, aber sie haben mir gesagt, dass ich hierbleiben muss“, sagt er. „Ich versuche, nicht aufzugeben.“Derzeit lernt Ulaş Deutsch. Mit Kopfhörern auf den Ohren spaziert er durch das Dorf und wiederholt laut deutsche Vokabeln. Und er träumt von einer eigenen Wohnung.
*Name von der Redaktion geändert
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe
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