Nedim Türfent sitzt seit mehr als 900 Tagen im Gefängnis. In seinem Brief schreibt er, wieso die Kurden den anstehenden Kommunalwahlen entgegenfiebern.
Es gibt in der Türkei nicht mehr viele Zeitungen, denen eine kritische Berichterstattung gelingt. Eine dieser Zeitungen ist die Yeni Yaşam. Im Oktober 2018 berichtete sie über einen von der Regierung in der südostanatolischen Stadt Silopi eingesetzten Zwangsverwalter. Dieser hatte ein Baugrundstück der Kommune im Wert von 1 Million Lira an einen AKP-Anhänger für 26.000 Lira verkauft – und somit das Grundstück quasi verschenkt. Ähnliche Fälle des Machtmissbrauchs wurden im selben Monat in den ebenfalls unter Zwangsverwaltung stehenden ostanatolischen Städten Dersim und Erciş bekannt.
Durch die Zwangsverwaltungen wird in der Türkei das grundlegendste aller Bürgerrechte – das aktive und passive Wahlrecht – ausgehebelt. Bei der Parlamentswahl am 7. Juni 2015 war es der linken pro-kurdischen HDP gelungen, die Zehnprozenthürde zu knacken. Die AKP verlor damit die absolute Mehrheit im türkischen Parlament. Erdoǧan und die AKP konnten dieses Wahlergebnis nicht akzeptieren und begannen mit einer massiven „Sicherheitspolitik“.
Aufgrund von bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen dem türkischen Militär und der PKK hat die Regierung wiederholt Ausgangssperren in den kurdischen Regionen verhängt (Anm.d.Red.). Der Präsidentschaftskandidat der HDP, Selahattin Demirtaş, die beiden Co-Parteivorsitzenden, Abgeordnete, Parteiführer, Bürgermeister und tausende Parteimitglieder wurden verhaftet. Und seit 2016 wurden 95 von 102 HDP-regierten Kommunen unter Zwangsverwaltung gestellt.
Die Ernennung der Zwangsverwaltungen erfolgte nicht auf richterlichen Beschluss, sondern wurde durch „Regierungsbeschluss“ bestimmt, eine gesetzliche Form hielt man nicht für nötig. Ebenfalls ohne richterlichen Beschluss wurden die Dorfvorsteher von 259 Dörfern vom Dienst suspendiert. Dass die HDP in diesen Dörfern bis zu 90 Prozent der Stimmen erhalten hatte, zeigt die Absicht der Regierung, dem Volk auf kleinster lokaler Ebene seinen Willen zu nehmen.
Dieser Angriff stellt den legitimen Willen der kurdischen Bevölkerung in Abrede, und zielt gleichzeitig auf die von der HDP vertretene demokratische und ökologische Kommunalpolitik ab, die sich insbesondere für Frauenrechte einsetzt. Auch die gleichberechtigte Doppelspitze im Parteivorsitz der HDP, die der Alleinherrschaft der Männer in der Politik ein Ende machen soll, ist der AKP-Regierung ein Dorn im Auge.
Die Zwangsverwaltungen schließen Frauenberatungsstellen sowie kurdischsprachige Kinderkrippen, und wollen Werke von Denkern und Künstlern der kurdischen Geschichte und Kultur verbieten. Auf diese Weise soll der mehrsprachigen Kommunalpolitik ein Ende gesetzt werden, was die kolonialistische Gesinnung der Regierung offenbart. Außerdem versuchen die Zwangsverwalter Sand in die Augen der Bevölkerung zu streuen, indem sie Projekte der HDP, die sie unter bürokratischen Vorwänden behinderten, nun mancherorts beginnen selbst umzusetzen.
Am 31. März 2019 stehen erneut Kommunalwahlen an und den Zwangsverwaltern der Regierung ist bewusst, dass sie die Wahlen nicht gewinnen werden. Regierungsnahe Medien, allen voran der staatliche Rundfunksender TRT, versuchen das Image der Zwangsverwaltungen aufzupolieren. Sie verbreiten die Meldung, die Bevölkerung sei zufrieden mit den Maßnahmen der von der Regierung eingesetzten Kommunalverwaltungen.
Doch die Kurden haben durchaus ein politisches Bewusstsein und sind in der Lage, die Ereignisse in ihren Städten und Provinzen zu analysieren. Erdoǧan scheint das zu wissen: Um die Kurden davon abzuhalten, zur Wahl zu gehen, drohte er in einer Rede, wieder Zwangsverwaltungen einzusetzen, sollte die HDP in der Region erneut stärkste Kraft werden.
Ob dieser Irrsinn tatsächlich umgesetzt wird, ist unklar. Die Co-Vorsitzende der HDP, Pervin Buldan, setzt trotz Betrug, Machtmissbrauch und schmutziger Machenschaften seitens der Regierung ihr Vertrauen in die Menschen der Region: „Das Volk wird sie Lügen strafen, das haben wir bereits in den vergangenen Wahlen gesehen. Wir werden uns vom Joch der Zwangsverwaltung befreien.“ Buldan ist so überzeugt davon, dass sie die Regierung herausfordert ihre Zwangsverwalter für die Wahl aufzustellen. Davor scheut sich aber die AKP, denn sollte ein Kandidat der Zwangsverwaltung nicht gewählt werden, könnte das als Wahlschlappe der Regierung gegen die HDP aufgefasst werden.
Mein Fazit: Solange die Drohung der kommunalen Zwangsverwaltungen im Raum steht wie eine Vogelscheuche im Garten eines Kurden, wird die kurdische Bevölkerung dem Wahltag sehnlichst entgegenfiebern, um dieser Politik eine klare Absage zu erteilen.
Nedim Türfent hat diesen Brief am 28. Oktober 2018 verfasst. Am 10. Dezember 2018 ging er bei taz.gazete ein.
Aus dem Türkischen von Judith Braselmann-Aslantaş