Im südosttürkischen Dorf Akyurt und umliegenden Orten leben mehr als 20 intersexuelle Menschen. Sie werden ausgegrenzt und sozial benachteiligt.
Vor seinem einstöckigen Haus hockt ein Mann im Schneidersitz auf dem Boden. Das Haus ist ein einfacher, unverputzter Betonbau, wie man ihn in vielen anatolischen Dörfern findet. Der 58-jährige Ahmet Zını, Vater von 12 Kindern, raucht seine Zigarette, lässt den Blick in die Ferne schweifen und erzählt: „Laut Geburtsregister habe ich neun Töchter und drei Söhne. Bei drei der Kinder, die wir nach ihrer Geburt als Mädchen registrieren ließen, war etwas anders. Im Alter von acht oder neun Jahren wurden ihre Stimmen plötzlich tiefer. Sie wollten keine Mädchenkleider mehr tragen und ärgerten sich über ihre rosafarbenen Personalausweise.“ Noch bis vor Kurzem stellte der türkische Staat rosa Ausweise für weibliche und blaue für männliche Bürger aus.
Das Dorf Akyurt liegt im Landkreis Siverek im Südosten der Türkei, 30 Kilometer von der Hauptstraße entfernt, die die Städte Diyarbakır und Şanlıurfa miteinander verbindet. Hier und in den umliegenden Dörfern sollen den Dorfbewohner*innen zufolge mehr als 20 Personen leben, die als Mädchen in die Geburtsregister eingetragen wurden, später jedoch als männlich assoziierte Attribute ausbildeten. Intersexualität hält man hier für eine Art Manko. Die der türkischen Regierung nahestehende Nachrichtenagentur Demirören bezeichnete Akyurt im April 2018 in einem Artikel als „Albtraum-Dorf“.
Dass Kinder intergeschlechtlich geboren werden, kann dem Universitätsdozenten Koray Başar von der Abteilung für Psychologie der Medizinischen Fakultät der Hacettepe Universität Ankara zufolge zahlreiche Ursachen haben. Intersexualität sei genetisch bedingt, eine der Ursachen seien Verwandtschaftsehen, sagt er.
Auch Ahmet Zını ist mit der Tochter eines Onkels verheiratet. Seine drei intersexuellen Kinder lehnen die Mädchennamen, die in ihren Ausweisen stehen, ab. Durch leichte Änderungen haben sie sich daraus ihre eigenen Wunschnamen konstruiert: Aus Sabriye wurde Sabri, aus Aysel Veysel. Nur Yüksel behielt seinen Namen, der sowohl ein Frauen- als auch ein Männername ist.
Yüksel Zını ist 24 Jahre alt, hat nie die Schule besucht und kann kaum lesen und schreiben. Im vergangenen Jahr hat er sich in einem staatlichen Krankenhaus in Diyarbakır einer geschlechtsangleichenden Operation unterzogen. Anschließend wurde er nach islamischem Recht mit Asya, einem Mädchen aus dem Dorf, verheiratet. Diese Form der Eheschließung ist in der Türkei nicht rechtsverbindlich, jedoch insbesondere auf dem Land noch weit verbreitet.
Da Zını in den staatlichen Geburtsregistern noch als Mädchen eingetragen ist und es die gleichgeschlechtliche Ehe in der Türkei nicht gibt, kann er die rechtsverbindliche Zivilehe mit einer Frau nicht eingehen. Jetzt hat er rechtliche Schritte in die Wege geleitet, um offiziell als Mann registriert und anerkannt zu werden. Sobald sein Sohn den neuen Ausweis mit dem männlichen Geschlechtsvermerk erhalten habe, wolle er seinen Militärdienst antreten, sagt Vater Ahmet Zını stolz.
Professor Abdurrahman Önen von der Kommission für Geschlechterforschung der Kinderklinik Diyarbakır erklärt, die Gesellschaft kenne nur zwei Geschlechter und sei nicht bereit, ein drittes Geschlecht anzuerkennen. Die Familien, insbesondere diejenigen, die vom Land kommen, bestünden in solchen Fällen darauf, dass das Kind durch Operation möglichst zu einem Jungen werde. Das nehme ihnen den psychologischen Druck. Eine Operation, die aus einem bei der Geburt als Jungen registrierten Kind ein Mädchen mache, könnten sie nur schwer akzeptieren.
Die Häuser in Akyurt sind umgeben von steinigem Gelände, es gibt kaum Anbauland in der Gegend. Während der Erntezeit im Herbst gehen viele der Dorfbewohner*innen deshalb zum Arbeiten in die etwa 30 Kilometer entfernten Baumwollfelder, die an der Straße Richtung Viranşehir liegen. Die Baumwollfelder bieten den Menschen die Möglichkeit, aus der konservativen Dorfgemeinschaft herauszukommen und – wenn auch nur in bescheidenem Rahmen – soziale Kontakte zu knüpfen.
Im Dorf Çıkrık, ein paar Kilometer von Ahmet Zınıs Haus entfernt, am Ende der Asphaltstraße, die sich durch das unfruchtbare Umland schlängelt, wohnt Aziz Işık, ein entfernter Verwandter von Ahmet Zını. 1986 verließ Işık zum ersten Mal sein Dorf, um auf den Baumwollfeldern zu arbeiten – und traf dort seine erste große Liebe. Auch Işık, der heute 50 Jahre alt ist, ist intersexuell. „Ein schönes Mädchen hatte sich in mich verliebt“, erzählt er. „Es gehörte sich damals in der Gesellschaft nicht, sich zu verlieben. Eineinhalb Jahre lang haben wir uns in den Feldern getroffen. Dann hat sie mich auf einmal verlassen, weil ihre Familie Menschen wie mich verachtete. Sie haben sie mit jemand anderem verheiratet – zehn Jahre lang hatte ich Liebeskummer.“
Ein Arzt, der Işık im Alter von vier Jahren in Ankara behandelt hatte, sagte der Familie damals, es liege eine „Entwicklungsstörung der Eierstöcke“ vor. Wenn er 14 Jahre alt sei, könne man feststellen, welches Geschlecht stärker ausgeprägt sei, erst dann könne über eine Operation entschieden werden. Später wollte man ihn in den staatlichen Krankenhäusern nicht mehr operieren.
Da die Ärzte keine Garantie dafür geben konnten, dass Işık nach der Operation zeugungsfähig wäre, und weil sich seine Geschlechtsorgane auch in den folgenden Jahren nicht weiterentwickelten, glaubten seine Eltern nicht mehr daran, dass sich seine Situation durch eine Operation bessern würde und lehnten es ab, diese in einer Privatklinik durchführen zu lassen.
Işık schrieb Briefe an Turgut Özal und Tansu Çiller, die MinisterpräsidentInnen der damaligen Zeit, in denen er ihnen von seinem gesundheitlichen Zustand und seiner „unglücklichen Lage“ erzählte, erhielt aber keine Antwort.
Wer in der Türkei offiziell die männliche Identität annehmen möchte, obwohl bei der Geburt das weibliche Geschlecht bestimmt wurde, muss sich noch immer einer geschlechtszuweisenden Operation unterziehen. Laut Universitätsdozent Koray Başar von der Hacettepe Universität Ankara wird Sexualität in der Gesellschaft vor allem mit Fortpflanzung in Verbindung gebracht. Das Geschlecht werde deshalb über die Fortpflanzungsorgane definiert. Aus Sicht der Gesellschaft beschränken sich die Probleme, denen Intersexuelle ausgesetzt sind, demzufolge auf Geschlechtszugehörigkeit und Fortpflanzung.
„Es wird allgemein angenommen, dass man Intersexuellen durch medizinische Eingriffe ihr wahres Geschlecht zurückgibt, auf das sie ein Anrecht haben. Deshalb werden diese Eingriffe als legitim angesehen, ohne hinterfragt zu werden“, sagt er. Başar betont, dass intergeschlechtliche Menschen jedoch nur dann medizinisch behandelt werden sollten, wenn sie ihre Entscheidung selbst frei treffen können. „Sowohl medizinische Eingriffe als auch die Entscheidung gegen eine solche Behandlung sind Gesundheitsleistungen und sollten als Teil des Gesundheitsrechts des Individuums angesehen werden.“
Als er in der dritten Klasse war, beschloss der Vater von Aziz Işık, ihn und seine Geschwister auf ein Internat in die Provinzhauptstadt Şanlıurfa zu schicken, erzählt Işık seine Geschichte weiter und lächelt gequält. Da er aber nicht in einem Mädchenzimmer schlafen wollte, habe er die Schule lieber abgebrochen.
Işık trägt eine schwarze weite Pluderhose unter dem leuchtend grünen Jackett. Er erhebt sich von seinem Sitzkissen und holt die Plastiktüte mit dem Fotoalbum vom Garderobenhaken. In dem Album bewahrt er Fotos seiner Jugendlieben auf. Zwischen den Seiten stecken kreuz und quer Krankenhausbelege, Ärzteberichte und einzelne Seiten, die sich aus dem Album gelöst haben.
Immer wieder zieht er die Bilder unter den dünnen Schutzfolien hervor, streicht darüber und betrachtet sie aus seinen mit Kajal umrandeten Augen. „Es war nicht leicht, die weibliche Identität anzunehmen, ich habe sehr damit gehadert. Noch dazu lebte ich in einem ungebildeten Umfeld, die Leute sahen auf mich herab, sie hielten es für etwas Schmutziges.“
Intersexualität kommt in der Gesellschaft häufiger vor als gemeinhin angenommen wird. Universitätsdozent Koray Başar berichtet von Studien, nach denen weltweit eine von 2.500 bis 4.000 Personen intergeschlechtlich ist, und solchen, die den Anteil mit 1,7 Prozent beziffern. Nach der Geburt sei es üblich, dass Ärzte oder die Familien selbst die Geschlechtsbestimmung vornehmen, indem sie die Fortpflanzungsorgane des Neugeborenen untersuchen. Diese Vorgehensweise berge erhebliche Schwierigkeiten, betont Başar.
Früher wurde Intersexualität in der Medizin als Hermaphroditismus bezeichnet, diese Bezeichnung sei jedoch 2006 nach der gemeinsamen Erklärung einer Expertenkommission offiziell in „Störung der Geschlechtsentwicklung“ umbenannt worden. Von Betroffenen und Menschen, die zum Thema Geschlecht forschen, werde dieser Begriff aber stark kritisiert, weil die Betonung auf „Störung“ liegt. Başar unterstreicht ausdrücklich, dass keine wissenschaftlich begründete Notwendigkeit besteht, den Körper in eines der beiden Geschlechter zu klassifizieren.
Işık konnte seine Forderung auf medizinische Behandlung nicht durchsetzen und fühlt sich deshalb um sein Existenzrecht betrogen. Er war immer sozial ausgegrenzt, ging weder zur Schule noch fand er eine Arbeit. Um von der Gesellschaft akzeptiert zu werden, brachte er sich selbst bei, Saz, die türkische Langhalslaute, zu spielen. Er lebt allein, doch wenn er Saz spielt, versammelt er die Dorfbewohner*innen um sich. Auch Passagen aus Büchern, die er gelesen hat, liest er ihnen vor. Sein Lieblingsbuch ist der Roman „Kurt Seyt und Shura“ von Nermin Bezmen, eine Geschichte zweier Liebender, die aus dem Russischen Zarenreich nach Istanbul fliehen.
Der jahrelange psychische Stress hat seine Gesundheit ruiniert, die Ärzte haben eine Depression bei ihm diagnostiziert. Inzwischen bringt er 95 Kilo auf die Waage. Schwerer als die physische Last wiege für ihn jedoch die seelische Belastung, sagt Işık: „Mein ganzes Leben lang blieb meine Liebe unerfüllt.“
Inzwischen will Işık die Operation, durch die er offiziell die männliche Identität annehmen könnte, nicht mehr. Sein Vater ist gestorben und aufgrund seines Status als ledige Tochter erhält er nach türkischem Gesetz ein Drittel von dessen Gehalt als Waisenrente. „Wenn ich mich als Mann registrieren lasse, wird die Zahlung der Waisenrente eingestellt – ich bin krank, das würde mich in Schwierigkeiten bringen. Die Mädchen, die ich geliebt habe, haben längst geheiratet. Deshalb will ich meine Identität nicht mehr ändern.“
Im wenige Kilometer entfernten Dorf Akyurt hockt Ahmet Zını, der Vater von 12 Kindern, im Schneidersitz auf der Veranda seines einstöckigen Hauses. Seine Kinder sparen gemeinsam ihren Lohn von der Arbeit auf den Baumwollfeldern, um den anderen beiden intersexuellen Geschwistern die geschlechtszuweisenden Operationen finanzieren zu können, erzählt er, sämtliche Krankenhäuser klappern sie dafür ab.
Er spricht, ohne die Stimme zu erheben, die Sätze bleiben unvollständig. Kritik am Staat oder den staatlichen Krankenhäusern kommt ihm nicht über die Lippen. Er redet nur über den Plan, wie und in welcher Reihenfolge er die Operationen durchführen lassen will. Als er einen Straßenhändler auf der schmalen Asphaltstraße vorbeigehen sieht, steht er auf und ruft ihm „Viel Glück!“ zu. Die zum Gruß erhobene rechte Hand bleibt eine Weile in der Luft hängen.
Aus dem Türkischen von Judith Braselmann-Aslantaş