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Oğuzhan Latif Nuh, 24 Jahre alt, Student, HIV-Diagnose 2016

Wir sind positiv

Menschen mit HIV bekommen in der Türkei neueste Medikamente. Von der Gesellschaft werden sie aber nach wie vor stigmatisiert.

BARIŞ ALTINTAŞ ELISABETH KIMMERLE, 2019-01-29

Während weltweit die Zahl der HIV-Infektionen in den meisten Ländern zurückgeht, ist die Türkei eines der Länder, in der sich immer mehr Menschen infizieren. Laut Deniz Gökengin, Spezialistin für Infektiologie an der Ege Universität in Izmir, hat sich die Infektionsrate in den vergangenen zehn Jahren verzehnfacht. Von 1985 bis 2018 hat das türkische Gesundheitsministerium 20.293 Menschen mit HIV registriert. Zwar ist die Zahl der HIV-Infektionen in der Türkei im Vergleich mit anderen Ländern nach wie vor eher niedrig. Gökengin geht aber davon aus, dass die Dunkelziffer doppelt so hoch ist. “Bis 2010 stieg die Infektionsrate langsam, doch seitdem ist ein schneller Anstieg zu verzeichnen“, sagt sie.

Çiğdem Şimşek, Vorstandsmitglied des Vereins Pozitif-iz (“Wir sind positiv“), sagt: “Wir sehen nur die Spitze des Eisbergs“. Ihr Verein hat es sich zum Ziel gesetzt, Menschen mit HIV-Diagnose zu unterstützen und das Bewusstsein in der Gesellschaft für die Infektion zu erhöhen. Den Anstieg der Infektionsrate in der Türkei führt sie auf leichteren Zugang zu Sex in Verbindung mit unzulänglicher Präventionsarbeit und Bildung in sexueller Gesundheit zurück. Der Hauptübertragungsgrund der Infektion ist immer noch ungeschützter Sex.

Zivilgesellschaftliche Organisationen und Betroffenen finden, dass der Zugang zu Medikamenten und zur Behandlung von HIV in der Türkei gut geregelt ist. HIV-positive Personen werden aber immer noch stigmatisiert und diskriminiert. “Die Ursache dafür ist Unwissen und mangelndes Bewusstsein“, erklärt Deniz Gökengin. “Nicht nur die Gesellschaft, auch das Pflegepersonal denkt immer noch, dass HIV eine tödliche Krankheit sei und in alltäglichen zwischenmenschlichen Beziehungen übertragen wird. Alle haben Angst, dass sie sich anstecken.“

Anders behandelt und ausgegrenzt

Çiğdem Şimşek vom Verein Pozitif-iz berichtet von Fällen, in denen der Gesundheitszustand von HIV-positiven Menschen in Krankenhäusern oder von Arztpraxen preisgegeben wurde, die Betroffenen deshalb anders behandelt wurden als andere Patient*innen oder ihnen die Behandlung verweigert wurde. “Es kommt vor, dass HIV-Positive wegen ihrer Krankheit nicht eingestellt oder gekündigt werden. Wenn Menschen mit HIV ihren Familien, Partner*innen und Freund*innen von ihrer Diagnose erzählen, kann es sein, dass diese sich von ihnen distanzieren“, sagt Şimşek.

Sie betont, dass sich all diese negativen Erfahrungen auf die Behandlung auswirken können. Weil Menschen mit HIV Angst vor diesen negativen Erfahrungen haben, könne es vorkommen, dass sie es vorziehen, sich nicht behandeln zu lassen oder dass sie ihre Medikamente nur unregelmäßig einnehmen. Wegen dieser Ängste machten dazu viele Menschen keinen HIV-Test.

“Das Schwierigste ist es, die Vorurteile abzubauen“, ist Gökengin überzeugt. “Wir müssen die Gesellschaft über verschiedene Kanäle darüber aufklären, dass es keinen Unterschied zwischen HIV und anderen Infektionen gibt“ Sie hält es für sinnvoll, wenn die Bildung in sexueller Gesundheit schon im Kindesalter beginnt.

Auch wenn viele wegen der Stigmatisierung ihre Identität nicht öffentlich machen wollen, werden die Stimmen von Menschen in der Türkei, die mit HIV leben, lauter. taz gazete hat mit drei von ihnen gesprochen.

Oğuzhan Latif Nuh, 24 Jahre alt, Student, HIV-Diagnose 2016

Als ich meine Diagnose bekommen habe, hatte ich gerade mein Studium abgebrochen. Ich habe in einer Bar gearbeitet und mich auf die Eingangsprüfungen für ein neues Studium vorbereitet. Die HIV-Diagnose hat mein Leben komplett auf den Kopf gestellt. Zuerst dachte ich, dass mein Leben eine schlechte Wende genommen hat und alles, was ich im Leben erreichen wollte, nun unmöglich geworden ist. Ich wurde depressiv und habe meine Wohnung monatelang nicht verlassen.

Dann habe ich angefangen, mich über HIV zu informieren und habe verstanden, dass meine Ängste daher rührten, dass ich nicht genug über HIV wusste. Ich habe festgestellt, dass heutzutage Menschen, die mit HIV leben, ihr Leben normal weiterführen können, wenn sie in Behandlung sind. Das habe ich zuvor nicht gewusst. Ich habe mich monatelang zuhause verkrochen, weil ich dachte, ich werde sterben.

Nach der Diagnose rief ich sofort meinen Freund an, erzählte ihm alles und forderte ihn auf, auch einen Test zu machen. Als sein Test negativ war, wollte ich mich von ihm trennen. Doch er blieb bei mir und unterstützte mich. Neben meinem Freund erzählte ich engen Freund*innen, dass ich HIV positiv bin. Ohne die Unterstützung meiner Freund*innen und meines Partners wäre ich aus der Depression nicht herausgekommen. Eine HIV-Diagnose zu bekommen, kann dich unglaublich einsam und hilflos fühlen lassen; vor allem wenn du zu einer Gruppe gehörst, die in der Gesellschaft ohnehin schon nicht akzeptiert wird.

Die HIV-Diagnose hat meine Freundschaften stärker gemacht. Gleichzeitig hat sie dazu geführt, dass ich mich von meiner Familie entfernt habe, weil sie nicht besonders verständnisvoll darauf reagiert hat, dass ich schwul bin. Ich habe beschlossen, meiner Familie erst von der Diagnose zu erzählen, wenn unsere Beziehung sich verbessert hat und ich sie über HIV informiert habe.

Die Diagnose hat mich in ein Abenteuer gestoßen, für das ich überhaupt nicht bereit war. Anfangs war es wie eine Ohrfeige, aber als ich mehr über die Krankheit erfahren habe, bin ich wieder aufgestanden und habe meine Rechte verteidigt.

Weltweit leben ungefähr 37 Millionen Menschen mit HIV. Diese Menschen sind nicht nur Homosexuelle, Sexarbeiter*innen und Drogenabhängige. Das ist eine Infektion, die durch einen Virus verursacht wird. Es ist völlig gleichgültig, ob sie Mütter, Väter, Kinder, Anwält*innen, Lehrer*innen oder Ärzt*innen sind.

Ironischerweise werden HIV-Positive in der Türkei am meisten in Krankenhäusern stigmatisiert. Die Sekretärinnen, Krankenschwestern und Krankenpfleger sind nicht sensibel genug, wenn es um HIV geht. Es kommt vor, dass die Krankenschwester beim Blutabnehmen sagt, “Ich ziehe mir lieber Handschuhe an“, wenn sie erfährt, dass ich HIV-positiv bin. Das, was mich bisher am meisten schockiert hat, ist mir in Deutschland während meines Erasmus-Austauschs passiert. Obwohl ich die Unterlagen der Krankenversicherungsvereinbarung zwischen der Türkei und Deutschland vorgezeigt habe, wollte die AOK die Kosten für meine Medizin und Bluttests nicht übernehmen. Stattdessen hat sie gefragt, ob ich sterben würde, wenn ich meine Medikamente nicht nehme.

Sevgi Yılmaz, 40 Jahre alt, Lehrerin und Mutter einer Tochter, HIV-Diagnose 2005

Ich habe Glück gehabt. Meine Familie hat mich von Anfang an sehr unterstützt. Wenn man mit HIV lebt, ist die Unterstützung der Familie wirklich wichtig. Ich hatte nur Schwierigkeiten, es meinem Kind zu erklären. Bei mir wurde AIDS im fortgeschrittenen Stadium diagnostiziert. Weil ich lange Zeit im Krankenhaus war, hatte sie Angst, mich zu verlieren. Ich konnte ihr erst vier Jahre nach meiner Diagnose erzählen, was los ist. Davor habe ich mich von einer Kinderpsychologin beraten lassen.

Anfangs wollte ich ihr nicht alles erzählen, weil es sie verwirrt hätte. Deshalb habe ich ihr nur vermittelt, dass sie keine Angst zu haben braucht und dass mir nichts passiert. Und ich habe ihr gesagt, dass sie mich immer fragen kann, wenn sie etwas beschäftigt. Nach und nach hat sie mich dann auch gefragt. Es fiel mir auch schwer, meiner Tochter von der Diagnose zu erzählen, weil ich mich bei meinem Ex-Mann angesteckt habe. Er ist ihr Vater. Als sie mich gefragt hat, woher ich den Virus habe, habe ich ehrlich geantwortet. “Ich habe mich bei deinem Vater angesteckt. Er hat es nicht gewusst und gewollt.“

Ich habe auch meinen engsten Freund*innen davon erzählt. Wenn man von HIV und dem Leben mit HIV erzählt, ist es meiner Meinung nach besonders wichtig, es mit wissenschaftlichen Fakten zu untermauern. Dadurch bleiben bei ihnen keine Fragen offen.

Inzwischen bin ich mit einem HIV-negativen Mann verheiratet, der im Gesundheitssektor arbeitet. In meiner jetzigen Beziehung war HIV nie ein Problem. Meine HIV-Infektion stand nie zwischen uns, sie beeinträchtigt nicht einmal unseren Alltag. Das hat auch damit zu tun, wie ich mich selbst wahrnehme. Mich trifft keine Schuld, das ist nur eine Infektion.

Ich bin dankbar, weil ich durch die HIV-Diagnose viel gelernt habe. Ich bin dadurch stärker geworden und habe tolle Menschen kennengelernt. Ich kann sagen, dass ich die einzige HIV-positive Frau in der Türkei bin, die die Interessen von Betroffenen vertritt. Es tut mir gut, ein Vorbild für Menschen zu sein, die gerade ihre Diagnose bekommen haben, und sie dabei zu unterstützen, ihr Leben mit HIV zu normalisieren. Und zugleich als heterosexuelle Mutter ein Beweis dafür zu sein, dass HIV keine Krankheit ist, die nur Homosexuelle betrifft.

Was den Zugang zu Medikamenten und Behandlung angeht, haben wir hier in der Türkei Glück. Die neuesten Medikamente sind vorrätig und es gibt auch keine Probleme, sie zu bekommen. Die Probleme erleben wir eher im Gesundheitswesen und im sozialen Umfeld. Hier ist es wichtig, dass wir unsere Rechte kennen und sie einfordern. Am meisten stigmatisiert werden wir im Gesundheitssektor und von Krankenpfleger*innen, weil sie nicht genug über HIV wissen. In der Universität steht es nicht im Curriculum, deshalb schließen sie das Medizinstudium auf diesem Gebiet mit Halbwissen ab. Mit unserem Verein Pozitif-iz gehen wir an die Medizin- und Krankenpflege-Fakultäten und klären über HIV auf.

Oğuz, 35 Jahre alt, HIV-Diagnose 2011

Ich habe meine Diagnose vor acht Jahren bekommen. Zu der Zeit habe ich im Gesundheitssektor gearbeitet. Deshalb bin ich auch nicht in eine tiefe Depression gefallen oder hatte Selbstzweifel, als ich die Diagnose bekommen habe. Nach meiner Diagnose hat sich mein Leben gar nicht so sehr verändert. Ich wusste, wie die Gesellschaft HIV wahrnimmt, aber ich glaube, ich bin einer der Glücklichen, die von ihrem Freundeskreis die nötige Unterstützung bekommen.

Als ich mich wenig später an meinen neuen Gesundheitszustand gewöhnt hatte, habe ich eines Abends meine engsten Freund*innen eingeladen, weil ich ihnen von der Diagnose erzählen wollte. Außer meinen engen Freund*innen weiß niemand, dass ich HIV-positiv bin, nicht einmal meine Familie. Weil meine Eltern alt sind, wollte ich nicht, dass sie sich unnötig Sorgen machen.

Etwa ein Jahr nach meiner Diagnose habe ich mit der medikamentösen Behandlung angefangen. Bis heute habe ich in dem Krankenhaus, in dem ich mich behandeln lasse, nichts Negatives erlebt. Ich wurde behandelt wie andere Patient*innen, meine Tests wurden durchgeführt wie sie durchgeführt werden müssen. Ich habe keinerlei Diskriminierung erlebt.

Nach meiner Diagnose hatte ich einige Beziehungen. Meine Partner kannten meinen Gesundheitszustand. Aber meine Beziehungen hielten wegen Meinungsverschiedenheiten nie lange.

Nachdem ich wusste, dass ich HIV-positiv bin, hat sich mein Leben in vielerlei Hinsicht zum Positiven gewendet. Ich ernähre mich jetzt gesünder. Davor habe ich viel Fast Food gegessen. Ich habe angefangen, Sport zu treiben. Ich habe mir angewöhnt, ein paar Haltestellen früher aus dem Bus auszusteigen und den Rest zu laufen. Ich habe gelernt zu teilen. Ich habe viele HIV-positive Freund*innen und teile mit ihnen viele empowernde Momente. Und vor allem habe ich verstanden, dass dieses Leben die einzige Chance ist, die mir gegeben wird. Ob HIV-positiv oder -negativ, eine andere Chance habe ich nicht, ich muss das Leben in vollen Zügen leben.

BARIŞ ALTINTAŞ ELISABETH KIMMERLE, 2019-01-29
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