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Jeden Mittwoch halten Angehörige, Freunde und Unterstützer eine Mahnwache für Demirci ab

Einer, der im Schatten steht

Seit April 2018 sitzt der Kölner Adil Demirci in einem türkischen Gefängnis. Seine Unterstützer kämpfen darum, dass er nicht vergessen wird.

VOLKAN AĞAR, 2019-02-11

Am 14. Februar soll sein Prozess weitergehen. Seit zehn Monaten, seit dem 13. April 2018 sitzt Adil Demirci in türkischer Haft – in dem selben Gefängnis, in dem auch Deniz Yücel inhaftiert war. Demirci ist 33 Jahre alt, deutschtürkischer Staatsbürger, So­zial­arbeiter, aber auch freier Journalist. Er hat für die linke Nachrichtenagentur ETHA geschrieben und übersetzt. Als Sozialarbeiter hat er in Remscheid mit geflüchteten Jugendlichen gearbeitet. Die türkische Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, Mitglied in einer terroristischen Organisation zu sein. Die taz hat in den vergangenen Tagen Angehörige und Unterstützer von Demirci in Deutschland getroffen, die darum kämpfen, dass er nicht vergessen wird.

Die Mutter

Aufrecht sitzt Elif Demirci auf dem Sofa ihrer Kölner Wohnung. Auf dem Couchtisch steht ein Strauß roter Margeriten. Demirci, 64 Jahre alt, hat Gallengangkrebs, eine seltene Tumorerkrankung. Vor knapp zwei Jahren hat sie die Diagnose bekommen. Zwei Chemotherapien hat sie schon hinter sich. Gerade macht sie die dritte. Die Augenringe unter der Brille und ihre gedämpfte Stimme verraten, wie sehr die Chemo sie belastet.

Sie erzählt von der Nacht, in der die türkische Polizei ihren Sohn verhaftete. Am 7. April reiste sie mit ihm in ihre alte Heimat. Es sollte eine kurze Reise werden, sie wohnten bei Verwandten in Istanbul. Am 14. April wollten sie wieder zurückfliegen nach Köln. Am 13. April stürmten maskierte Spezialeinheiten um vier Uhr morgens die Wohnung ihres Bruders, durchwühlten alles und nahmen Adil Demirci fest.

Als ihr Sohn verhaftet wurde, lag Elif Demirci ein Stockwerk höher im Bett, in der Wohnung ihrer Schwester. Ihr Sohn habe bei der Festnahme darum gebeten, dass man sie nicht wecke, sagt sie. Darum erfuhr sie erst nach dem Aufwachen von der Verhaftung.

Während sie von der Nacht erzählt, die ihr Leben verändert hat, bemüht sie sich um Genauigkeit. Im Wohnzimmer der Demircis wird manchmal auch gelacht, wenn Anekdoten über Adil erzählt werden. Immer wieder sind da aber auch die Zweifel, Ängste, das Bedauern über eine Entscheidung, die nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Elif Demirci hebt die Hände, wenn sie erzählt, dass sie sich vor der Reise gefragt habe, ob sie nicht lieber allein fahren sollte.

Weil Adil es so will und wegen ihrer Krankheit, kehrt Elif Demirci nach der Festnahme nach Köln zurück. Einen Monat später fliegt sie wieder in die Türkei. Ihr erster Besuch im Hochsicherheitsgefängnis Silivri hat sich in ihr Gedächtnis eingebrannt. „Der Eingang in die Haftanstalt ist schrecklich“, sagt sie. „Durch wie viele Kontrollen man gehen muss, hat mich schockiert. Wenn das erst der Eingang ist, wie ist es dann im Inneren?“

Beim ersten Besuch wird sie gefragt: „Wer bist du? Wieso bist du gekommen? Wen willst du treffen?“ Sie zeigt ihren Ausweis, legt ihre Tasche auf ein Band. Sie muss ein Blatt ausfüllen. Dann läuft sie etwa fünf Minuten und muss das Handy abgeben. Die Habseligkeiten werden noch mal gescannt, sie selbst muss durch einen Scanner gehen. Dann kommt ein Bus, der zu den Haftanstalten zwei und neun fährt. „Das ist ein riesengroßes Gelände“, sagt Elif Demirci.

Adil Demirci ist in Nummer neun inhaftiert. Man fährt fünf Minuten mit dem Bus. Dann gibt es noch eine Befragung, noch mal Ausweiskontrolle. Man schließt seine Gegenstände in einem Schrank ein, auch Ketten und Ohrringe. Die Augen werden gescannt. Um den Augenscanner zu beschreiben, nimmt Elif Demirci eine Fernbedienung in die Hand und hält sie vor ihr Gesicht.

Das war es aber noch nicht: Man gibt seinen Ausweis ab, stellt sich an, Frauen und Männer werden getrennt, noch eine Ganzkörperkontrolle in kleinen Zimmern. Noch mal Augenscannen. Dann sitzt da ein Mann an einem Tisch, dem man das Blatt Papier gibt und der auf einen Raum zeigt. Geschafft.

Elif Demirci erzählt auf Türkisch, immer wieder benutzt sie das Wort „acayip“, das so viel wie „seltsam“ oder „grotesk“ bedeutet. Im Kölner Wohnzimmer gibt es viele gerahmte Bilder von Adil. Auf einem der Fotos trägt er ein weißes Kurzarmhemd. Es wurde aufgenommen, als Elif Demirci ihren Sohn das erste Mal nach der Festnahme besuchte. Die beiden stehen am Strand, der Sand ist goldgelb, das Meer türkisblau.

Ein anderes Bild ist beim letzten Besuch der Mutter entstanden. Es ist eine Ganzkörperaufnahme, nicht auf die Gesichter gezoomt, wie beim ersten Foto. Der Strandhintergrund wird dieses Mal auf Höhe der Hüften unterbrochen.

Während man den Hintergrund auf dem ersten Bild für echt halten könnte, sieht man bei dieser Aufnahme, dass der Strand nur eine Leinwand ist. Mutter, Vater und Bruder lachen darüber. Es ist ein verbittertes Lachen. Bruder Tamer sagt: „Das ist etwas Psychologisches, erniedrigend.“ Der Vater sagt: „Die wollen, dass das Gefängnis schön aussieht.“

Zehn Monate sitzt Adil Demirci bereits in Haft. Wie hält seine Mutter das aus? „Das Telefonieren hat mir schon gutgetan“, sagt sie. Wegen ihrer Chemotherapie kann sie jetzt gerade nicht in die Türkei reisen, um ihren Sohn im Gefängnis zu besuchen. Das machen jetzt andere Verwandte.

Einmal in der Woche telefoniert sie aber mit ihm. Immer mittwochs, immer gegen Mittag. Das Telefonieren sei für sie und ihre Gesundheit mindestens so wichtig wie die Chemotherapie, sagt sie. Ihr Mann sagt: „Nein, es tut dir sogar besser.“

Die Anklage

Die türkische Staatsanwaltschaft wirft Adil Demirci vor, Mitglied in einer terroristischen Vereinigung zu sein. Die marxistisch-leninistische MLKP ist in der Türkei verboten. Demirci weist die Vorwürfe zurück. In der Anklageschrift, die der taz vorliegt, gilt die Nachrichtenagentur ETHA als ein Medium, das „den Ideen und der Ideologie der Terrororganisation MLKP entsprechend“ veröffentlicht. Demirci hat für sie als freier Mitarbeiter gearbeitet.

Auf den elf Seiten der Anklageschrift nennt die Staatsanwaltschaft Demirci ein „MLKP-Mitglied, das im europäischen Bereich Aktivitäten ausführt“. Sie wirft ihm vor, an Beerdigungen und Gedenkfeiern von Personen teilgenommen zu haben, die gegen den sogenannten Islamischen Staat gekämpft haben. Am ersten Prozesstag sagte Demirci: „An den Gedenkveranstaltungen haben Tausende Menschen teilgenommen“. Es sei „ein demokratisches Recht“, an solchen Feiern teilzunehmen.

Eigentlich arbeitet Demirci seit 2016 hauptberuflich beim Jugendmigra­tions­dienst in Remscheid. Dort berät er junge Menschen mit Migrationshintergrund, die in Deutschland geboren oder aus Syrien oder Afghanistan geflüchtet sind. Er vermittelt Praktika, organisiert Sprachkurse, hilft bei Bewerbungen und Vorstellungsgesprächen.

Als freier Journalist schreibt und übersetzt er seit etwas mehr als fünf Jahren für die türkische sozialistische Nachrichtenagentur ETHA – dieselbe Agentur, für die auch Meşale Tolu gearbeitet hat. Demirci schrieb etwa über „Black Lives Matter“, die Nachwirkungen des Arabischen Frühlings oder Proteste gegen die französischen Arbeitsmarktreformen.

Mustafa Peköz, Demircis Anwalt, sagte der taz in dieser Woche, dass er mit der Freilassung seines Mandanten am nächsten Verhandlungstag, dem 14. Februar, rechne. Die Staatsanwaltschaft habe nichts Belastendes in der Hand. Er fügte aber hinzu, dass er bereits beim ersten Verhandlungstag mit der Freilassung gerechnet habe.

Der Freundeskreis

Adil Demirci hat viele Freundinnen und Freunde in Deutschland. Einige engagieren sich im Solidaritätskreis „Freiheit für Adil Demirci“. Andere haben Angst, öffentlich für die Sache einzutreten und dann womöglich selbst nicht mehr in die Türkei einreisen zu dürfen. Sie unterstützen im Hintergrund.

Esra A. steht vor dem Wuppertaler Hauptbahnhof und steckt sich eine Zigarette an. Hier haben sie sich oft getroffen: Esra A. lebt in Wuppertal, Demirci machte hier öfter einen Zwischenstopp auf dem Weg zur Arbeit nach Remscheid. Esra A. tritt auf den Mahnwachen auf, spricht dort auch, will aber trotzdem nicht mit vollem Namen in der Zeitung stehen.

Sie sagt, sie habe Verwandte in der Türkei. Es schneit, der Schnee färbt ihren schwarzen Mantel weiß. In einem Café in der Nähe des Bahnhofs, in dem sie oft mit Adil Demirci war, erzählt sie ihre gemeinsame Geschichte. Sie kennen sich seit ihrer Kindheit. Esras Tante betreute Adil Demirci und dessen Familie als Flüchtlingsberaterin. Adil sagt „abla“ zu Esra, „große Schwester“.

Als Erwachsene fahren sie öfter zusammen in den Urlaub, nach Dänemark oder Kuba. Und sie haben den gemeinsamen Traum, irgendwann in die Türkei zu ziehen. Eine Sehnsucht, die Esra A. kaum mit Worten fassen kann, die aber viele Deutschtürken ihrer Generation in sich tragen. Die ewige Frage nach Heimat und Zugehörigkeit.

Adil Demirci versuchte den Traum zu verwirklichen und hat eine Zeitlang in Istanbul gelebt – bis zum Putschversuch, danach wurde es ihm zu heikel. Esra A. hat sich nicht getraut. Jetzt, angesichts der politischen Zustände und der Verhaftung Adils, scheint der Traum weit weg.

An diesem Abend fährt Esra A. mit ihrer Tante und Schwester nach Köln zur Mahnwache. Es ist das 41. Mal. Es ist wieder Mittwoch. Die drei sprechen über die Willkommensparty, die sie für Demirci organisieren wollen.

Foto: privat
Efsun Kızılay und Adil Demirci bei einer Demonstration im Januar 2018

Efsun Kızılay, einer anderen Freundin, schreibt Adil Demirci nach dem ersten Verhandlungstag einen Brief aus Silivri: „Man merkt erst im Gefängnis, wie wertvoll Briefe sind.“ Darüber, dass er bei Prozessbeginn nicht gleich freigelassen wurde, schreibt er: „Ja, ich habe mich entschieden, noch ein bisschen hier zu bleiben. Was soll ich im Winter auch draußen machen. Hier ist es warm. Natürlich war ich ein bisschen überrascht. Aber während der Verhandlung hatte sich schon abgezeichnet, dass so eine Entscheidung kommen würde. Aber das hier ist schließlich auch eine Art Lebenserfahrung.“

Der Genosse

Said Boluri rauscht in seinem Golf an Duisburger Backsteinhäusern vorbei und versucht sich zu erinnern, wann er Adil Demirci das erste Mal getroffen hat. Es fällt ihm schwer, ein konkretes Datum, eine konkrete Begegnung zu nennen. Adil Demirci scheint für ihn schon immer da gewesen zu sein. Gemeinsam haben die beiden sich an der Universität politisiert, sie sind auf Demos gegangen, sie haben sich gestritten, sie haben Politgruppen organisiert.

Kurz bevor er auf den Parkplatz der Uni Duisburg-Essen fährt, erinnert sich Boluri doch noch: Bei den Bildungsprotesten, als gegen den Bologna-Prozess mobilisiert wurde, hat er Demirci zum ersten Mal gesehen.

Im Uni-Café gibt es an diesem Tag Bohneneintopf „rheinischer Art“. Boluri holt sich einen Cappuccino und spricht kurz mit der Verkäuferin, die ihn wiedererkennt, obwohl er sein Studium 2011 beendet hat. In dem Uni-Café haben Demirci und er viel Zeit verbracht. Boluri erzählt von Protesten gegen Studiengebühren. „Das hat uns und viele andere Arbeiterkinder direkt betroffen.“ Für die Verhältnisse hier seien sie schon radikal gewesen, sagt Boluri, der weiße Strähnchen an den Schläfen kriegt.

In Erinnerung ist ihm vor allem geblieben, wie sie einmal zusammen das Rektorat besetzt haben. Das Land Nordrhein-Westfalen hatte damals gerade Studiengebühren eingeführt, aber den Universitäten überlassen, diese zu erheben oder nicht. Viele Unis verzichten darauf, ihre Uni nicht.

Foto: privat
Said Boluri (links) hat sich mit Adil Demirci zusammen an der Uni politisch engagiert

Sie schrieben das Rektorat an. Es kam keine Antwort. Sie wollten den Rektor besuchen, aber der weigerte sich, sie zu empfangen. „Dann sind wir mit 40 Mann hingegangen und haben gesagt: Wir bleiben hier, bis er kommt.“

Als die Polizei sich ankündigt, gibt es eine Diskussion unter den Besetzern. Wollen sie sich raustragen zu lassen? Oder gar eine Konfrontation riskieren? Boluri erzählt, dass vor allem Demirci Bedenken äußert. „Er war einer, der immer mit Bedacht gehandelt hat.“

Demirci fragt, ob es etwas bringt, wenn man sich und die anderen in Gefahr bringt. Dann gibt es eine Abstimmung. Die Mehrheit will bleiben. Adil Demirci bleibt auch. Er fängt an, zu telefonieren und Unterstützung zu organisieren. Nach sieben, acht Stunden kommt die Bereitschaftspolizei. Fünf Studierende werden festgenommen. Die Polizisten müssen Boluri und Adil ein paar Stockwerke nach unten tragen. Dieses Erlebnis habe sie zusammengeschweißt, erzählt Boluri.

Das Café der Uni Duisburg unterscheidet sich von denen an vielen anderen Universitäten. Studierende mit Migrationshintergrund sind hier keine Besonderheit, hier sitzt nicht nur eine Frau mit Kopftuch, in kleinen Gruppen wird Türkisch gesprochen.

Boluri und Demirci gründeten eine Gruppe namens „Forum demokratischer Studierender“, mit der sie sich um jene Studierenden kümmern wollten, die sozial benachteiligt sind oder rassistisch ausgegrenzt werden. Sie haben Kommilitonen zum Thema Aufenthaltsrecht beraten oder ihnen erklärt, wie sie finanzielle Hilfe vom Staat bekommen können. Boluri und Demirci kamen als Flüchtlinge nach Deutschland, das vergisst man nicht. Boluri aus dem Iran, Demirci aus der Türkei.

Demirci engagiert sich auch nach der Uni politisch, etwa bei der „Föderation der Arbeitsimmigranten aus der Türkei in Deutschland“ (Agif). Als Boluri erfährt, dass sein Freund und Genosse Demirci in der Türkei festgenommen wurde, vernetzt er sich mit anderen Freunden und Adils Bruder Tamer Demirci. Drei Tage nach der Festnahme organisieren sie eine erste Demonstration am Kölner Hauptbahnhof. Seitdem organisieren sie die Mahnwachen.

Der Bruder

Köln, Wallrafplatz, 30. Januar 2019. Tamer Demirci steht vor einem Pavillon und spricht vor knapp 20 Menschen in ein Mikrofon. Viele haben Schilder in der Hand, mit einem Foto von Adil Demirci, darunter: „Freiheit für Adil Demirci“. Auf einem anderen Schild steht: „Journalist zu sein ist kein Verbrechen.“

Immer wieder bleiben Passanten stehen und hören kurz zu. Tamer Demirci erzählt die Geschichte seines Bruders. Sie fängt an mit einer Frage: „Wer ist Adil Demirci?“ Seine Antwort: „Adil ist 33 Jahre alt. Adil lebt in Köln und hat neben der deutschen auch die türkische Staatsangehörigkeit.“ Der Schneeregen fliegt Tamer Demirci ins Gesicht. Er zieht die Kapuze seiner Jacke vor die Augen und spricht weiter.

Nach seiner Rede steht Tamer Demirci unter dem Plastikpavillon, seine Sneaker sind pitschnass. Weil er heute Morgen so spät dran gewesen sei, habe er schnell die Turnschuhe angezogen, sagt er und lacht. Auf die Frage, wie es ihm geht, antwortet er: „Kein Bock mehr.“ Er lacht über seine eigene Antwort. Und witzelt weiter: Sein Bruder solle da endlich rauskommen, er habe schon ein paar Aufgaben für ihn. Seit sein Bruder im Gefängnis ist, haben sich Tamer Demircis Aufgaben multipliziert: sich um die Mutter kümmern, Öffentlichkeit für den Bruder schaffen, daneben arbeiten. Eigentlich ist er ja noch Student. Er musste sein Masterstudium in Informatik aber vorerst abbrechen. Gerade arbeitet er bei einem IT-Dienstleister.

Foto: Jörn Neumann
Tamer Demirci ist seit der Verhaftung quasi zum Presse­sprecher seines Bruders geworden

Eigentlich ist Tamer Demirci also nicht wirklich zum Lachen. Vor allem wegen seiner Mutter. Er sagt: „Mich stresst es nicht so sehr, dass mein Bruder im Gefängnis ist, sondern dass meine Mutter krank ist, während mein Bruder im Gefängnis ist.“

Der erste Prozesstag am 20. November 2018 war der Tag vor Adil Demircis Geburtstag. Alle hatten sich auf eine gemeinsame Feier nach der Freilassung eingestellt. Daraus wurde nichts. Trotzdem servierten sie bei der Mahnwache am nächsten Tag Kuchen, es wurde gesungen. Und am 14. Februar, wenn der Prozess weitergeht? Tamer Demirci ist optimistisch. Auch sein Bruder sei optimistisch, sagt er am Ende der 41. Mahnwache.

Immer mittwochs treffen sie sich um 18 Uhr auf dem Kölner Wallrafplatz. Tamer Demirci erzählt von all den Menschen, die kommen, obwohl sie seinen Bruder gar nicht persönlich kennen. Von einem älteren Paar, das bei einer Demo von Demirci erfahren hat und seither ununterbrochen dabei ist. Von einem Baby einer Freundin des Bruders, das kurz nach der Festnahme Demircis geboren wurde und dem sie bei den Mahnwachen beim Großwerden zusehen können.

Auch einige Journalisten sind an diesem kalten Tag gekommen. Ein Ra­dio­journalist fragt Tamer Demirci, was er bei dem Termin am nächsten Tag im Auswärtigen Tag wolle. Demirci antwortet ihm: „Wir wollen den deutschen Außenminister auffordern, mit klaren Worten die Freilassung meines Bruders zu fordern, weil er unschuldig ist.“ Der Radiojournalist stellt noch eine Frage, wieder kommt die Antwort sofort. Keine Versprecher, keine Pausen. Wer Tamer Demirci nicht kennt, könnte ihn für einen guten Pressesprecher halten. Mit der Presse spricht er aber erst, seitdem sein Bruder in Haft sitzt.

Die Politik

Auf der Mikroebene ist die Solidarität mit Adil Demirci groß: Demircis Arbeitgeber hat seinen Vertrag verlängert, obwohl er nicht anwesend ist. Eine deutsche Delegation flog zum ersten Prozesstag in die Türkei und möchte dies am 14. Februar wieder tun, darunter die Bundestagsabgeordneten Heike Hänsel (Die Linke) und Rolf Mützenich (SPD) sowie der Investigativjournalist Günter Wallraff. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Jürgen Hardt war dabei, als Bruder Tamer Demirci 5.000 Unterschriften für die Freilassung seines Bruders an Michael Roth, Staatsminister im Auswärtigen Amt, überreichte. Die Familie und Freunde von Adil Demirci sind dankbar für all das. Aber die Frage ist: Was bewirkt diese Solidarität am Ende? Kann sie mehr sein als reine Symbolpolitik?

Was die Makroebene angeht, die diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei, sagt Tamer Demirci: „Wenn Deutschland nur entschlossen genug die Freilassung meines Bruders fordern würde, dann wäre er nächste Woche hier.“ Aber die Aufmerksamkeit für die Türkei ist nicht mehr so groß wie noch vor zwei Jahren. „Es gibt Ermüdungserscheinungen“, sagt Said Boluri.

Ist das die einzige Erklärung dafür, dass kaum jemand Adil Demirci kennt? Vor zwei Jahren wurde der Welt-Korrespondent Deniz Yücel festgenommen. Der Aufschrei war groß – zu Recht. Als Meşale Tolu Ende April 2017 festgenommen wurde, war Yücel noch in Haft. Die Aufmerksamkeit für das Thema blieb konstant. Weil Yücels Fall die deutsch-türkischen Beziehungen schwer belastet hatte, wurde Tolu als weitere Eskalation durch die türkischen Behörden wahrgenommen. Deutsche Medien blickten genau auf die Türkei.

Aber die politische Konjunktur hat sich geändert: Mitte April 2017 stand das Verfassungsreferendum in der Türkei an, mit dem Erdoğan seine autoritären Zugriff legalisieren wollte. Die Türken wollten in Deutschland Wahlkampf machen. Die Deutschen waren damit nicht einverstanden. Es kam zum Streit, Erdoğan unterstellte Bundeskanzlerin Merkel „Nazimethoden“.

Im Herbst 2017 stand dann die Bundestagswahl an. Für deutsche Politiker hieß es: Rückgrat zeigen oder Stimmen verlieren. Und wie lassen sich einfacher Stimmen sammeln als mit Spitzen gegen die autoritären Türken? Wenige Tage vor der Bundestagswahl ging der damalige Außenminister Sigmar Gabriel weiter: „Wir haben unsere Wirtschaftshilfe reduziert und bei Investitionen in der Türkei klar auf die Risiken hingewiesen.“ Es war die Rede von einem deutschen Vorstoß zum Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen der Türkei. Als Yücel freigelassen wurde, eilte Gabriel dann in den Newsroom der Welt, um eine Erklärung abzugeben.

Und nun? Eine erneute Konfrontation mit der Türkei erschien nach Adil Demircis Festnahme nicht mehr opportun. Es überwiegen wieder die gegenseitigen Abhängigkeiten: Die wirtschaftlich angeschlagene Türkei braucht Deutschland, wenn sie sich schon mit Trumps USA überworfen hat. Und Deutschland ist weiterhin abhängig von der Türkei, wenn es darum geht, Geflüchtete aus dem Nahen Osten fernzuhalten.

Die Mutter

Elif Demirci sagt, es gebe ihr viel Kraft, dass sich so viele Menschen für ihren Sohn einsetzen, die ihn gar nicht kennen. Sie müsse oft an die vielen jungen Menschen in der Türkei denken, die unschuldig im Gefängnis sitzen. Es würde aber nichts bringen, wenn sie in Trauer versinkt. Sie will optimistisch sein, auch für Adil. Deshalb wird sie weiter mit ihm telefonieren und ihm Briefe schreiben. Sie hat auch einen Brief an die Bundeskanzlerin geschrieben und sie gebeten, sich für die Freilassung ihres Sohns einzusetzen. Jetzt wartet sie.

VOLKAN AĞAR, 2019-02-11
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