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Die türkische Gendarmerie zerstört 2013 tausende Marihuana-Pflanzen in der Nähe von Diyarbakır

Ein Gramm Heroin für 120 Lira

Seit den Straßengefechten zwischen Militär und kurdischer Stadtguerilla in Diyarbakır 2015 und 2016 breitet sich der Drogenverkauf und -konsum aus.

FIGEN GÜNEŞ, 2019-05-29

Eine Gruppe von Frauen, die in den engen Straßen von Diyarbakırs Altstadt Sur unterwegs ist, betritt den Innenhof eines der jahrhundertealten Steinhäuser, um sich hier ein wenig auszuruhen. In der Küche des Hauses füllt ein Mann mit tätowierten, zittrigen Händen eilig ein paar Gläser mit einem aus frischen Kräutern zubereiteten Erfrischungsgetränk und reicht sie den Frauen. Dem Mann fehlen einige Zähne, sein Blick ist auf die Kundinnen gerichtet. „Und, schmeckt es gut?“, fragt er sie.

Ab und zu arbeitet der heroinabhängige Hȇvȋ* in diesem Café in Sur und bereitet Erfrischungsgetränke zu. Heute wird er damit 20 Lira, umgerechnet etwa 3 Euro, verdienen. Davon werde er sich Heroin kaufen und es rauchen, sagt er. Aktuell kostet ein Gramm Heroin in Diyarbakır etwa 120 Lira, umgerechnet 17,60 Euro. Verglichen mit anderen türkischen Städten ist das erstaunlich günstig.

Hȇvȋ wohnt mit seiner Tante in einem steinernen Haus mit alten Jalousien gleich neben dem Café, in dem er die Erfrischungsgetränke serviert. Es ist das Haus, in dem er geboren wurde und aufgewachsen ist. Hier hat er mit 13 Jahren seinen ersten Rausch ausgeschlafen, nachdem er zum ersten Mal Gras geraucht hatte. Von diesem Tag an hat er regelmäßig Haschisch und viele andere Drogen konsumiert. Mit Heroin hat er erst vor sieben Jahren angefangen. Jetzt ist er 42 Jahre alt und kann nicht still sitzen. Beine und Kopf bewegen sich ständig unbeabsichtigt.

„Diese Leere würde mich dazu bringen wieder anzufangen“

Hȇvȋ hat an der Universität Philosophie studiert. Eigentlich würde er gerne noch seinen Master machen. Wenn er eine richtige Arbeit fände, könnte er das dafür nötige Geld verdienen. Allerdings ist da noch das Verfahren gegen ihn, bei dem ihm 12 Jahre Gefängnis drohen, was ihm große Sorgen bereitet.

„Ich hatte damals einen Drogenfreund. Wenn er keine Drogen bekam, hat er mir Geld gegeben und ich habe ihm dafür etwas besorgt, aber in den Augen des Türkischen Gesetzbuches sind wir Dealer. Die Strafen dafür sind extrem hoch“, erzählt er. „In dem Gerichtsverfahren geht es um 10 Gramm Rauschgift, mein Freund ist für 22 Jahre und ich bin für 12 Jahre verurteilt worden.“ Die Akte liege gerade beim Obersten Gerichtshof. Hȇvȋ hat erst 18 Monate seiner Strafe abgesessen. Wenn das Urteil bestätigt wird, muss er den Rest noch verbüßen.

Die schwerste Phase seiner Sucht habe er während seiner Haftstrafe überwunden, im Knast sei er clean geworden, erzählt er. Heute konsumiert Hȇvȋ zwar weniger Heroin als früher, bezeichnet sich aber immer noch als abhängig. Manchmal hat er einen Job, manchmal nicht. Nachdem er aus dem Gefängnis entlassen worden war, hielt er sich zunächst fern von der Drogenszene in Diyarbakır, dann habe er sich aber schnell einsam gefühlt. „Die Straßenkämpfe in der Stadt, die abgebrochenen Beziehungen zu meiner Familie – das alles hat mich dazu verleitet, wieder mit den Drogen anzufangen. Auch durch meine Arbeitslosigkeit bin ich in ein Loch gefallen. Selbst wenn ich in ein Therapiezentrum gehen würde, diese Leere würde mich dazu bringen, wieder anzufangen“, sagt er.

Hȇvȋ ist der Meinung, dass die Strafen nicht greifen. Im Grunde genommen werde der Drogenhandel vom System geduldet. In seinem Stadtviertel Sur sei auf der Straße schon immer Haschisch verkauft worden. Nach den schweren Gefechten zwischen den türkischen Sicherheitskräften und militanten PKK-Anhängern in Diyarbakır in den Jahren 2015 und 2016 seien dann noch weitere Drogen hinzugekommen.

Nach den Straßenkämpfen breitete sich das Heroin aus

Vor den Straßenkämpfen haben sich junge Anhänger der kurdischen Stadtguerilla YDG-H, einer Jugendbewegung der PKK, zusammengetan und Razzien an den einschlägigen Orten durchgeführt, an denen Drogen konsumiert und verkauft wurden. Das sorgte allgemein für Abschreckung, der Handel wurde deutlich beeinträchtigt. Aber diese Razzien dauerten nicht lange an, danach begannen die Gefechte in der Stadt.

Die kriegsähnlichen Zustände, die gleich danach einsetzende Binnenmigration und fehlende Kontrolle haben dazu beigetragen, dass sich der Heroinkonsum ausbreiten konnte. Der relativ geringe Preis von Heroin hat dafür gesorgt, dass es in kurzer Zeit immer mehr Dealer und immer mehr Konsumenten gab. Laut Hȇvȋ hat sich das Problem der Heroinsucht in der Stadt inzwischen zu einem regelrechten Massenphänomen entwickelt.

Der Sozialarbeiter Mustafa Altıntop glaubt, dass der Staat die Augen vor dem Heroinhandel zu niedrigen Preisen verschließt und so zulässt, dass sich der Handel in Diyarbakır ausbreitet.

Das Gefühl, das Leben hänge am seidenen Faden

Laut Altıntop gehören auch die Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit der Kinder und Jugendlichen, die Zeugen der Straßenkämpfe in Sur geworden sind, zu den Gründen für den steigenden Drogenkonsum in der Stadt. Weitere Faktoren seien der sogenannte städtische Umbau, in dessen Namen alte Siedlungen abgerissen und riesige auf dem Reißbrett entworfene Neubausiedlungen hochgezogen wurden, und die dadurch resultierende Zerstörung von über Jahrzehnte gewachsenen Nachbarschaften in den Stadtvierteln.

„Das, was diese Kinder damals durchgemacht haben, ist nichts, womit man alleine klarkommen kann“, sagt Altıntop. „Die Jugendlichen erleben, dass es egal ist, ob sie studieren, weil sie trotzdem einfach entlassen werden können. Dass es egal ist, wie sehr sie sich im Leben anstrengen, weil es sein kann, dass man ihr Haus einfach abreißt, oder plötzlich ein Krieg ausbricht. Ständig haben sie das Gefühl, ihr Leben hänge an einem seidenen Faden.“

In der Kreisstadt Cizre in der südostanatolischen Provinz Şırnak, in der ebenfalls schwere Gefechte stattfanden, sei die Anzahl der Drogenabhängigen aus ähnlichen Gründen ähnlich hoch, erzählt Altıntop weiter.

Der Sozialarbeiter hat 2016 eine Studie zum Drogenkonsum von Jugendlichen zwischen 18 und 24 Jahren veröffentlicht. Die Studie zeige, wie wenig effektiv die bestehenden Therapiezentren sind. „In diesen Therapiezentren werden Ersatzmedikamente für die Drogen ausgehändigt, aber ein rein medizinisches Modell löst noch lange nicht das Problem. Die Drogenabhängigkeit ist auch ein soziales Problem“, sagt Altıntop. „Präventivmaßnahmen spielen hier eine ganz wichtige Rolle, aber das sozialpolitische System der Türkei ist nicht in der Lage, funktionierende Maßnahmen in diesem Bereich zu etablieren.“ Statt lokal an die vor Ort herrschenden Bedingungen angepasste Angebote zu erarbeiten, würden die Maßnahmen zentral von der Regierung umgesetzt.

In Diyarbakır leben 14.000 Drogenabhängige

Auch Hȇvȋ beschäftigt, dass es keinen speziellen Ansatz für seine Heimatstadt gibt. Er ist der Ansicht, dass ehemalige Drogenabhängige als treibende Kraft eingesetzt werden müssten, um andere Drogenabhängige dazu zu bringen, in die Therapiezentren zu kommen. Er glaubt nicht, dass es den Experten allein gelingen wird, das Problem in den Griff zu bekommen.

Tatsächlich wurde diese Idee in Diyarbakır früher schon einmal umgesetzt. Das 2014 von der Kommunalverwaltung Diyarbakır gegründete Beratungs- und Unterstützungszentrum für Drogenabhängige Hevra hatte eine Selbsthilfegruppe für „Anonyme Drogenabhängige“ ins Leben gerufen. Einer der Gründer dieser Gruppe, der Sozialarbeiter Ümit Çetiner, sagt, dort hätten sich die clean gewordenen Mitglieder gegenseitig motiviert, nicht rückfällig zu werden. Die Gruppe sei damals sehr erfolgreich gewesen. Außerdem wurde 2014 in Kooperation öffentlicher Einrichtungen und der Zivilgesellschaft eine „Plattform für den Kampf gegen Drogenabhängigkeit“ gegründet.

Diese Plattform und das Beratungszentrum Hevra wurden jedoch 2016 mit Einrichtung der Zwangsverwaltung in Diyarbakır auf Eis gelegt. Ein Großteil der in diesen Organisationen Beschäftigten verlor seine Arbeit. Auch Çetiner, der in der Geburts- und Kinderklinik Diyarbakır gearbeitet hatte, wurde per Notstandsdekret entlassen. Laut der letzten Statistik von Hevra aus dem Jahr 2015 leben in der Eineinhalb-Millionen-Metropole Diyarbakır 14.000 Drogenabhängige. Seither wird keine Statistik mehr geführt.

Heute gibt es in ganz Diyarbakır kein einziges Zentrum, das sich ganzheitlich mit der Drogen- und insbesondere der Heroinsucht auseinandersetzt. Es wird den Betroffenen entweder eine medizinische Therapie oder psychologische Beratung angeboten. Einzelne Angebote wie diese können die Probleme nicht lösen, weil sie keine Therapie mit Unterbringung in einer Klinik beinhalten.

Die nächste Klinik ist 150 Kilometer entfernt

Aktuell werden in der Stadt Pläne diskutiert, Anlaufstellen zu eröffnen, die ambulante Therapien oder psychologische Unterstützung für Drogenabhängige anbieten. Diese sollen in die Struktur von bestehenden Krankenhäusern und zivilen Gesellschaftsorganisationen eingebunden werden und Therapie, Beratung und Reha-Maßnahmen anbieten. Menschen ohne Sozialversicherung wie Hȇvȋ könnten diese Leistungen allerdings nicht in Anspruch nehmen.

Die Entzugsklinik Amatem (dt.: Therapie- und Forschungszentrum für Alkohol- und Drogenabhängige, Anm.d.Red.) für erwachsene Suchtpatienten hat bisher keine Zweigstelle in Diyarbakır. Als die Organisation Hevra noch arbeiten konnte, übernahm sie die Kosten für diejenigen, die keine finanziellen Mittel hatten und schickte sie in die nächste Amatem-Klinik im 150 Kilometer entfernten Elazıǧ. Doch jetzt ist auch das nicht mehr möglich.

Um dem wachsenden Bedarf an Unterbringungen in einer Entzugsklinik gerecht zu werden, wurde mit dem Bau einer Amatem-Klinik in Diyarbakır begonnen. Dieser ruht jedoch derzeit, weil das Gesundheitsministerium finanzielle Schwierigkeiten hat. Abgesehen davon, meint Sozialarbeiter Altıntop, müsste jedoch das Gesundheitsministerium gemeinsam mit dem Ministerium für Familie, Arbeit und soziale Dienstleistungen ein multidisziplinäres Team bilden und mit einem ganzheitlichen Ansatz an die Sache herangehen, um das Drogenproblem der Stadt wirklich in den Griff zu bekommen.

Der Besitzer eines in einer Seitenstraße neu eröffneten Lokals betritt das Café, in dem Hȇvȋ arbeitet. „Ich habe gehört, du suchst noch Mitarbeiter. Ich würde gerne meinen Lebenslauf vorbeibringen. Würdest du mich einstellen?“, ruft Hȇvȋ ihm mit hoffnungsvollem Blick zu. „Klar, bring ihn vorbei“, antwortet der Cafébesitzer im Vorbeigehen und setzt sich an einen freien Tisch. Hȇvȋ starrt auf seine eigenen Hände und öffnet die Handflächen. Er schaut auf die Vogelflügel und das Kreuz auf seinem linken Handrücken und lächelt.

* Name auf Wunsch des Protagonisten geändert. Der echte Name ist der Redaktion bekannt. Hȇvȋ ist Kurdisch und bedeutet Hoffnung.

Aus dem Türkischen von Judith Braselmann-Aslantaş

FIGEN GÜNEŞ, 2019-05-29
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