CHP-Parteivorstand İlhan Cihaner findet die Amtsenthebungen voraussehbar und fordert eine „Volksbewegung“ dagegen.
Während die Parteijugend der Republikanischen Volkspartei (CHP) verkündete, die in Diyarbakır, Van und Mardin über die Kommunen gesetzten Zwangsverwalter nicht anzuerkennen, verurteilte der Parteivorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu die Straßenproteste in Diyarbakır. Taz.gazete sprach mit İlhan Cihaner. Der ehemalige Abgeordnete ist im Parteivorstand der CHP.
Taz.gazete: Waren die Amtsenthebungen der drei Bürgermeister*innen voraussehbar?
Ja, insofern als dass die türkische Wahlkommission nach den Wahlen die Entscheidung traf, dass Bürgermeister*innen ihr Amt nicht antreten dürfen, falls unter den Notstandsdekreten der letzten Jahre gegen sie ermittelt oder vorgegangen wurde. So ist es zum Beispiel in Bağlar geschehen. Bereits vor den Wahlen vom 31. März hatte der Staatspräsident und AKP-Chef Recep Tayyip Erdoğan angekündigt, dass Kommunen, in denen die AKP die Wahlen nicht gewinnt, einem kommissarischen Verwalter unterstellt werden würden.
Ist die Amtsenthebung eine gesetzmäßige Handlung?
Verwaltungsrechtlich gesehen ist sie nicht rechtens. Die Ermittlungen gegen den Bürgermeister von Diyarbakır, Selçuk Mızraklı, wurden bereits 2017 aufgenommen. Welche Handlungen genau Straftaten darstellen sollen, steht nirgends in der Akte. In Haft war er nie. Es heißt, bei der Umbenennung von Straßen seien Namen von PKK-Mitgliedern vergeben worden. Aber warum ist der Gouverneur nicht dagegen eingeschritten? Warum wurde der gewählte Bürgermeister nicht darüber informiert, dass hier ein Verdacht auf eine Straftat bestehe?
Vorgeworfen wird „Terrorpropaganda“. Aber sowohl der Begriff Propaganda als auch der Begriff Terror sind unglaublich schwammig geworden. Die Anwendungspraxis ist nicht durch das türkische Strafrecht oder die internationalen Standards zur Terrorbekämpfung gedeckt. Die angeführte Formulierung „Kontakt und Verbindungen zu einer Terrororganisation“ muss hinterfragt werden. Wenn da ermittelt wird, dann bitte zu allererst zu den Kontakten und Verbindungen zwischen AKP-Abgeordneten und der gülenistischen Terrororganisation FETÖ.
Was ist denn die Motivation?
Es geht vermutlich darum, dass die AKP sich in dieser für die Partei spannungsvollen Zeit ihrer Basis rückversichern möchte. Nicht zuletzt sind durch die oppositionellen Bürgermeister*innen unglaubliche Daten über Misswirtschaft und Korruption durch vorherige Zwangsverwalter, aber auch in regulären AKP-Kommunen der letzten Wahlperiode an die Öffentlichkeit gekommen. Die AKP hat eine Verwalter-Demokratie eingerichtet. Viele Privatfirmen wurden in der Vergangenheit unter kommissarische Zwangsverwaltung gestellt. Erst wird etwas gesucht, um gerichtlich gegen die Firma vorgehen zu können, dann kommt der Zwangsverwalter und saugt das Kapital der Firma quasi ab. Die Zwangsverwalter sind also als ökonomischer Apparat des Regimes zu sehen.
Man hört immer wieder, dass jetzt auch die CHP-geführten Kommunen bald dran seien. Halten Sie das für realistisch?
Manche sagen, Erdoğan würde sich das nicht trauen. Aber es ist ja während des Staatsnotstands schon in anderen CHP-geführten Kommunen passiert! Es geht also weniger um die Frage, wer sich was traut, sondern um ein politisches Kosten-Nutzen-Kalkül: Was würde es bringen, die Städte Istanbul und Ankara ebenfalls Zwangsverwaltern zu unterstellen?
Was kann dagegen getan werden?
Die demokratischen Kräfte in der Gesellschaft und die oppositionellen Parteien müssen jetzt zusammenstehen. Eine Volksbewegung kann die gewählten Politiker*innen wieder ins Amt hieven. Zur Zeit der Militärdiktaturen in Argentinien, Chile und Bolivien gab es in vergleichbaren Fällen Volksbewegungen, um die gewählten Vertreter*innen im Amt zu behalten. Die Bevölkerung verweigerte den von oben eingesetzten Kommissaren die Anerkennung. Aber die Opposition muss eine solche Volksbewegung dann auch anführen. Sonst geht es nicht.
Aus dem Türkischen von Oliver Kontny