Ein HipHop-Lied sorgt in der Türkei für Aufsehen. „Susamam“ wurde millionenfach geklickt und thematisiert die Probleme des Landes.
„Während die Tage vorbeiziehen, hast du vergessen, warum du existierst. Den Problemen, die du verursachst, bist du dir nicht bewusst. Du willst lachen und Spaß haben. Antworten auf diese Fragen zu finden, interessiert dich nicht. Das Leben ist hart genug. Darum willst du, dass Musik dich unterhält und von der Realität ablenkt. Aber wir glauben, dass Musik etwas verändern kann. Komm mit uns!“
So beginnt der Track Susamam („Ich kann nicht schweigen“) – ein HipHop-Lied von 19 Musiker*innen, entstanden unter der Regie des Rappers Şanışer. In dem 15-minütigen Stück kommen aktuelle Probleme in der Justiz, die steigende Zahl der Frauenmorde, Verbrechen an Umwelt und Tieren, der politische Druck und Arbeitslosigkeit zur Sprache.
Seit der Veröffentlichung auf YouTube am 5. September wurde das Video über 15 Millionen Mal aufgerufen. Im türkischen Mainstream gab es schon lange keine Künstler mehr, die sich so offen oppositionell positioniert haben. Dementsprechend groß war die Resonanz – unabhängig vom Alter, Musikgeschmack und der politischen Haltung der Menschen, die das Video verbreitet haben.
Der Künstler Samet Gönüllü (alias Sokrat St), einer der Initiatoren des Projekts, hatte nicht erwartet, dass das Video ohne jegliche PR-Kampagne so viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde: „Wahrscheinlich ist es die Zeit, in der wir leben“, sagt er. Es sei das erste gemeinsame Projekt von Rap-Musiker*innen mit so vielen unterschiedlichen politischen Überzeugungen.
Die Initiatoren hatten die Künstler*innen gebeten, jeweils über ein Problem in der Türkei zu schreiben. Innerhalb eines Monats haben sie das Projekt abgeschlossen und das Video veröffentlicht. Laut Gönüllü wird HipHop im türkischen Mainstream immer sichtbarer: „Ich hoffe, wir sorgen so dafür, dass HipHop wichtiger wird“, sagt er über das Kollektivprojekt.
Türkischer HipHop ist Ende der 80er Jahre in Deutschland entstanden und hat seitdem einen oppositionellen Charakter bewahrt. Dabei wird „Protestmusik“ in der türkischen Populärkultur historisch im Genre des Rock verortet. Als Subkultur hat sich HipHop in der Türkei nach und nach von der städtischen Peripherie in die Zentren ausgebreitet. Mittlerweile ist das Genre in der Türkei so beliebt, dass im vergangenen Jahr drei der fünf meist gehörten Tracks auf dem Streamingdienst Spotify HipHop-Lieder waren.
Deshalb denkt Musikhistoriker Murat Meriç, dass HipHop das Genre Rock als Widerstands-Sound auch schon verdrängt hat. „Wir wollen so viel sagen, aber irgendwie werden wir daran gehindert. Es liegt in der Natur des HipHop, sich gegen Unterdrückung aufzulehnen“, so Meriç.
Die meisten Hörer*innen von HipHop in der Türkei sind zwischen 13 und 17 Jahren alt. „Die junge Generation wird hoffentlich mutiger sein und die Stimme bei jenen Problemen erheben, bei denen wir geschwiegen haben“, so der Musikhistoriker. Den Erfolg von Susamam führt er auf inhaltliche Bandbreite des Liedes zurück: „Wenn meine Mutter dieses Lied hören würde, würde auch sie etwas finden, das sie anspricht.“ In den Sozialen Medien gab es aber auch Kritik: Unter den 19 Künstler*innen gibt es nur eine Frau. Während sogar das Thema Verkehr thematisiert wird, bleiben Probleme, mit denen LGBTI-Personen zu kämpfen haben, ausgespart.
Es hat nicht lange gedauert bis Susamam von Personen aus dem Kreis der Regierungspartei AKP kriminalisiert wurde. Die Zeitung Yeni Şafak, die der Familie des Finanzministers und Erdoğan-Schwiegersohns Berat Albayrak gehört, veröffentlichte einen Artikel, in dem das Lied als „gemeinsame Produktion der Terrororganisationen PKK und FETÖ“ bezeichnet wird. Auch der stellvertretende Ministerpräsident Hamza Dağ (AKP) hat das Video auf Twitter als „Provokation“ und „Manipulation“ bezeichnet.
Im vergangenen Jahr wurden drei Rapper, darunter der Künstler Ezhel, wegen ihrer Texte verhaftet und saßen monatelang in Untersuchungshaft. Zeitgleich mit Susamam hat auch Ezhel sein Lied Olay („Vorfall“) veröffentlicht. Im Videoclip sind Aufnahmen von Protesten der letzten Jahre und des Putschversuchs am 15. Juli 2016 zu sehen. Das Video wurde kurz nach seiner Veröffentlichung von der Trendliste entfernt. Die Begründung von YouTube: Laut Richtlinien dürften in den Trends keine altersbeschränkten Videos erscheinen.
Die Künstler*innen von Susamam sind sich bewusst, dass auch gegen sie Ermittlungen eingeleitet werden könnten. Diese Möglichkeit wird sogar im eigenen Refrain thematisiert: „Es wird der Tag kommen, an dem werden diese schuldigen Worte eingesperrt.“ Über mögliche gerichtliche Verfahren oder Zensur sagt Rapper Samet Gönüllü: „Wir werden hinter unseren Worten stehen.“
Aus dem Türkischen von Julia Lauenstein