Der Ex-Bundestagsabgeordnete Memet Kılıç hat Erdoğan einen „Vaterlandsverräter“ genannt. Die türkische Justiz will ihn zur Verantwortung ziehen.
BERLIN taz | Erstmals ist ein aktiver deutscher Politiker in der Türkei wegen Beleidigung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan angeklagt worden. Der Grünen-Politiker Memet Kılıç, ehemals Bundestagsabgeordneter aus Baden-Württemberg und heute auf Landesebene aktiv, wird von der Oberstaatsanwaltschaft in Ankara der Präsidentenbeleidigung beschuldigt. Er hatte Erdoğan in einem Zeitungsinterview vorgeworfen, der Türkei Schaden zuzufügen, und ihn als „Volksverräter“ bezeichnet.
Kılıç hat die deutsche und türkische Staatsbürgerschaft, lebt als Anwalt in Heidelberg und hält sich nicht in der Türkei auf. Der Nachrichtenagentur dpa sagte er, er reise wegen Drohungen gegen ihn schon seit drei Jahren nicht mehr in die Türkei. Das Regime versuche ihn mundtot zu machen, glaubt Kılıç. Die Anklage sieht er als neue Eskalationsstufe. „Mir ist nicht bekannt, dass schon einmal ein deutscher Politiker in der Türkei angeklagt wurde.“
Kılıç hat von der Anklage erfahren, weil sie an einen Neffen von ihm in der Türkei zugestellt wurde. Das Gerichtsverfahren soll im Dezember beginnen, er denkt nach eigenen Angaben noch darüber nach, ob er zu diesem Anlass in die Türkei fahren will.
Verfahren wegen Beleidigung des Präsidenten, die mit knapp fünf Jahren Haft geahndet werden können, werden in der Türkei immer häufiger genutzt, um Oppositionelle mundtot zu machen, einzuschüchtern und letztlich auch ins Gefängnis zu bringen. Ein besonders spektakulärer Fall fand am vergangenen Freitag statt, als die Istanbuler Vorsitzende der größten Oppositionspartei CHP, Canan Kaftancıoğlu, unter anderem wegen Beleidigung des Präsidenten zu knapp neun Jahren und acht Monaten Haft verurteilt wurde.
Der Vorsitzende der CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, ist schon so oft wegen Präsidentenbeleidigung angeklagt worden, dass Parlamentskollegen bereits für ihn gesammelt haben, damit er die Strafen bezahlen kann, wenn er nach seiner Zeit im Parlament seine Immunität verliert.
Aber auch andere deutsche Staatsbürger sind betroffen. Im April wurde ein Deutscher aus Braunschweig wegen des Beleidigungsvorwurfes zu zehn Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass die in Köln lebende kurdische Sängerin Hozan Canê, die bereits wegen angeblicher „Terrorpropaganda“ zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt ist, nun auch noch wegen Präsidentenbeleidigung angeklagt werden soll. Darüber hinaus ist auch ihre Tochter verhaftet worden, die trotz Ausreisesperre die Türkei verlassen wollte und dabei festgenommen wurde.
Ebenfalls wegen Präsidentenbeleidigung steht derzeit ein Mitarbeiter der deutschen Friedrich-Naumann-Stiftung in Istanbul vor Gericht. Er soll Erdoğan in einem Tweet einen „Dieb“ genannt haben. Das Auswärtige Amt warnt Türkei-Urlauber seit langem, mit Äußerungen im Internet vorsichtig zu sein, da die Gefahr bestehe, dafür in der Türkei festgenommen zu werden.