Am 6. April nimmt der neue Flughafen in Istanbul seinen Regelbetrieb auf.
Mit Grafiken, Videos, Reportagen und Interviews beleuchtet taz gazete die Folgen des Megaprojekts für Menschen, Umwelt und Wirtschaft.

Lesen Sie mehr unter
taz.atavist.com/istanbul-flughafen

In den sozialen Medien wird darüber spekuliert, was am Erlanger Bahnhof am 5. Oktober geschah

Tod eines türkischen Studenten

Am Erlanger Bahnhof stirbt ein junger Mann aus der Türkei. Dass Polizei und Medien darüber schweigen, weckt Zweifel in der türkischen Öffentlichkeit.

ALI ÇELIKKAN ELISABETH KIMMERLE, 2019-10-25

Für gewöhnlich berichten deutsche Medien nicht über Suizide, weil das zu Nachahmungen führen kann. Doch im Fall des türkischen Studenten Mert Çokluk, der am 5. Oktober am Erlanger Bahnhof tot auf den Gleisen gefunden wurde, führte ausgerechnet die Zurückhaltung von Medien und Polizei dazu, dass der Tod des Studenten in den türkischen Medien Aufsehen erregte.

Der 24-jährige Student aus dem westtürkischen Bursa war kurz davor gewesen, sein Masterstudium an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen abzuschließen. Im November hätte Mert Çokluk in den Niederlanden sein Promotionsstudium begonnen. Seine Familie, die in Bursa lebt, erfuhr erst fünf Tage später von seinem Tod. Am 12. Oktober wurde er in Bursa beerdigt. Mert Çokluks Tod erschütterte seine Familie tief. Weil die Familie nach eigenen Worten vom türkischen Generalkonsulat in Nürnberg und den deutschen Behörden nicht ausreichend Informationen erhielt, musste sie sich auf die ungesicherten Informationen von in Deutschland lebenden Bekannten verlassen. Diese Informationen teilte sie mit der Presse.

Der Tod des Studenten, über den oppositionelle und regierungsnahe Zeitungen gleichermaßen berichteten, warf viele Fragen auf. Für die Journalist*innen und türkeistämmige Menschen, die sich in den sozialen Medien äußerten, gab es in dem Fall unzählige Ungereimtheiten: Warum benachrichtigte das türkische Generalkonsulat in Nürnberg die Familie erst fünf Tage nach Çokluks Tod? Warum tauchte in den deutschen Medien keine Nachricht über das Ereignis auf? Gab es Spuren von Gewalt? Versuchte die Polizei, etwas zu vertuschen?

Die Ungewissheit ließ Raum für unzählige Spekulationen in der türkischen Berichterstattung und den sozialen Medien: Wurde Çokluks Leichnam von einem anderen Ort an den Bahnhof gebracht? Brach am gleichen Tag zur gleichen Zeit ein Feuer am Bahnhof Erlangen aus? War der Brief, der bei Çokluk gefunden wurde, tatsächlich ein Abschiedsbrief? Was konnte der Grund dafür sein, dass der Student, der wenige Tage später sein Masterstudium abgeschlossen und in den Niederlanden seine Promotion angefangen hätte, sich das Leben nimmt? Waren Çokluks Telefon und Computer verschwunden? Gab es eine Verbindung zu einem anderen Erasmus-Studenten aus der Türkei, der sich im Juli umgebracht hatte?

Bahnhof wegen Notarzteinsatz gesperrt

Die Nachrichten, die in den türkischen Medien erschienen, verunsicherten andere türkische Studenten, die in Deutschland studieren. Çokluk hatte nicht viele Freund*innen in Deutschland. Eine Gruppe türkischer Studierender, die ihn nicht persönlich kannte, forderte unter dem Hashtag #mertçoklukgizemlicinayeti (Der mysteriöse Mord an Mert Çokluk) Aufklärung. Alperen Gündoğan, der in München studiert und Mert Çokluk nicht persönlich kannte, war höchst alarmiert durch die Nachricht von dessen Tod. „Das Schlimmste war, dass es einfach keine Stellungnahme gab“, sagt Gündoğan. „Deshalb haben wir gedacht, es kann alles mögliche gewesen sein außer Selbstmord.“

Der Pressekodex gebietet bei der Berichterstattung über Suizide Zurückhaltung zum Schutz der Persönlichkeit. Das gilt vor allem für „die Nennung von Namen, die Veröffentlichung von Fotos und die Schilderung näherer Begleitumstände“. Auch die Polizei gibt keine Details zu den Umständen preis. Deshalb erschien in bayerischen Medien am Tag von Mert Çokluks Tod nur die kurze Nachricht, dass der Erlanger Bahnhof am Morgen des 5. Oktobers wegen eines Notarzteinsatzes für mehrere Stunden gesperrt worden sei.

Dass die deutschen Behörden und Medien keine Erklärung abgaben, die die Öffentlichkeit befriedigen konnte, führte dazu, dass immer mehr Behauptungen aufgestellt wurden. Medienberichte, die auf den Aussagen einer Quelle beruhten, führten zu Misinformationen. Der CHP-Abgeordnete Erkan Aydın brachte am 18. Oktober zu dem Fall eine Anfrage im türkischen Parlament ein, in der er gar behauptete, es sei bestätigt worden, dass Çokluk gefoltert wurde.

Erst 16 Tage nach dem Vorfall, am 21. Oktober, äußerte das türkische Konsulat in Nürnberg sich schriftlich: „Die Aufklärung dieses erschütternden Falles muss durch konkrete Befunde der ermittelnden Behörden geschehen. Unbestätigte, spekulative Meldungen und Verschwörungstheorien führen nicht zur Wahrheit.“

Zwei Nächte raubte ihm der Fall den Schlaf

Mert Çokluks Vater Bekir tut sich schwer, den Tod seines Sohnes zu verstehen. Am 22. Oktober sagte er taz gazete: „Wir haben keine Möglichkeit, nach Deutschland zu kommen, uns umzuschauen und Fragen zu stellen. Wir haben keine verlässlichen Informationen bekommen“, und fügte hinzu: „Was wir vom Hörensagen erfahren, überzeugt uns nicht. Wir warten auf den Autopsiebericht.“

Als der langjährige Deutschlandkorrespondent Mustafa Akbaba vom Tod Mert Çokluks erfuhr, beschloss er die Hintergründe zu recherchieren. Zwei Nächte raubte ihm der Fall den Schlaf. Er sprach mit Bahnhofspersonal, ermittelnden Beamten und der Feuerwehr. Dann schrieb er einen Artikel, in dem er begründete, warum er den Fall für einen Suizid hält. Der Pressesprecher der Polizei Mittelfranken habe ihm bestätigt, dass sämtliche Indizien ebenso wie die Aussagen von Augenzeugen dafür sprachen, dass der Student sich das Leben genommen hatte.

Taz gazete gegenüber sagte die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth, nach ihren Erkenntnissen liege kein Fremdverschulden vor. „Die polizeilichen Ermittlungen zeigen, dass es eindeutig Suizid war.“

Akbaba zufolge wurde bei Çokluk zudem ein achtseitiger Abschiedsbrief gefunden. Dieser sei bei der Polizei von einem türkeistämmigen Beamten auf Deutsch übersetzt worden und werde dann der Familie geschickt. Für den Journalisten ist Misinformation ein wichtiger Grund dafür, dass der Fall in der Türkei so hohe Wellen geschlagen hat. „Von der Türkei aus über Deutschland zu schreiben, ist leicht. Wenn die deutschen Behörden keine Informationen herausgeben, entsteht Raum für unterschiedlichste Ideen.“ Akbaba fürchtet, die Eltern des toten Studenten werden von ihrem Umfeld auf falsche Fährten gebracht. „Bei all ihrem Schmerz ist das zusätzlich belastend. Der Sohn war ein erfolgreicher Student an der Middle Eastern Technical University. Die Eltern sind Bauern. Sie hatten riesige Erwartungen an ihn“, sagt er.

Bei jedem Todesfall entsteht ein Fragezeichen

Auf die Spekulationen, die in den sozialen Medien kursierten, reagierte die Polizei Mittelfranken, die sich lange zurückgehalten hatte, am 23. Oktober: „Bitte keine Verschwörungstheorien! Suizid ist ein tragisches Ereignis, das die Intimsphäre des Verstorbenen betrifft. Unsere Ethik verbietet die öffentliche Diskussion. Wenn es Aspekte gibt, die öffentl. berichtet werden können/müssen, machen wir das. Wenn nicht, hat das Gründe!“

Doch hinter dieser Verunsicherung und den Spekulationen stehen neben der Rolle der Medien auch die realen Erfahrungen einer Kontinuität rassistischer Gewalttaten in diesem Land. Akbaba sieht die NSU-Morde als einen Grund für das fehlende Vertrauen vieler türkeistämmiger Deutscher in die Behörden: „Wenn zum Beispiel der Verfassungsschutz in Hessen seine NSU-Akten 120 Jahre unter Verschluss halten will, dann entsteht mit jedem Todesfall automatisch ein Fragezeichen im Kopf der Menschen“, sagt er.

Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Nürnberg, Bülent Bayraktar, wurde vielfach auf den Fall angesprochen. Dass der Tod des türkischen Studenten die türkeistämmige Community sehr verunsicherte, führt auch er auf die NSU-Morde zurück. Drei der zehn NSU-Opfer wurden in Nürnberg ermordet. „Nürnberg ist tief in die NSU-Mordserie verstrickt. Das Vertrauen in die Polizei ist sehr angekratzt“, sagt Bayraktar. „Da kommen immer wieder Fragezeichen auf, wenn etwas nicht gut kommuniziert wird.“ Wenn die Fragen nicht beantwortet würden, entstünden Verschwörungstheorien, sagt er, im Netz werde alles mögliche interpretiert. „Ich habe mich natürlich auch zuerst gefragt, warum es so lange dauert, bis man die Eltern in der Türkei informiert. Aber wenn man sich die Sachverhalte dann nüchtern ansieht, ergibt alles wieder Sinn.“

Die Suche nach Angehörigen habe sich für die Polizei schwierig gestaltet, da Çokluk offenbar keine Verwandten oder nahen Bezugspersonen in Deutschland hatte. „Weil es sich höchstwahrscheinlich um Suizid handelt, sind die Polizei und das Generalkonsulat sehr zurückhaltend mit Informationen“, erklärt Bayraktar. „Der Grund, warum der Fall in den sozialen Medien und in den türkischen Medien eskaliert ist, war wahrscheinlich die sparsamen Informationen, die sowohl die Polizei als auch das Generalkonsulat in Nürnberg preisgegeben haben.“

Bis heute wird er angerufen und gefragt, warum die Türkische Gemeinde in dem Fall nichts unternehme. Er antwortet dann, dass die Türkische Gemeinde die Ergebnisse der Autopsie in der Türkei abwarte. „Nur das kann Aufschluss geben. Alles andere ist Spekulation“, sagt er und fügt hinzu: „Falls der Autopsiebericht andere Ergebnisse hervorbringen sollte, können wir als Verein Druck auf die Behörden ausüben, in die Tiefe zu ermitteln.“

Übersetzung: Oliver Kontny

Normalerweise berichten wir nicht über Suizide. Dies gibt der Pressekodex vor: „Die Berichterstattung über Selbsttötung gebietet Zurückhaltung. Dies gilt insbesondere für die Nennung von Namen, die Veröffentlichung von Fotos und die Schilderung näherer Begleitumstände.“ Dadurch soll auch verhindert werden, dass es Nachahmer gibt. Ausnahmen sind zu rechtfertigen, wenn es sich um Vorfälle der Zeitgeschichte oder von erhöhtem öffentlichen Interesse handelt. Deshalb haben wir uns entschieden, über diesen Fall zu berichten.

Sollten Sie Suizidgedanken haben, so wenden Sie sich bitte an professionelle Helferinnen und Helfer. Diese finden Sie jederzeit beider Telefonseelsorge: 0800/111 0 111 oder 0800/111 0 222 oder auch unter www.telefonseelsorge.de.

ALI ÇELIKKAN ELISABETH KIMMERLE, 2019-10-25
ZURÜCK
MEHR VOM AUTOR