Am Istanbuler Flughafen ist erneut ein Arbeiter tödlich verunglückt. Der 19-jährige Mehmet Aydın stürzte in einen ungesicherten Aufzugschacht.
Im neu entstehenden DHL-Logistikzentrum am neuen Istanbuler Flughafen war die Stimmung am Montag, den 4. November, angespannt. Die gesamte Baustelle musste gereinigt werden. Der Zwischenraum im Treppenhaus wurde mit Eisenstäben und Gittern geschlossen. Fahrstuhlschächte wurden abgesichert. Es wurden Lampen angebracht, um die Arbeit nach Sonnenuntergang zu erleichtern. Die feuchten Stromkabel aus dem Keller wurden aufgesammelt.
Aber damit nicht genug: Einer der Subunternehmer der türkischen Baufirma Berko, die für DHL das Logistikzentrum baut, rief alle Arbeiter nach der Mittagspause zusammen. Ihnen wurde gesagt, dass sie mit Geldstrafen zu rechnen haben, wenn sie sich nicht streng an alle Sicherheitsregeln auf der Baustelle halten. Jeder Arbeiter musste ein Schriftstück unterzeichnen, in dem er sich dazu verpflichtet, alle Regeln zu befolgen. So berichtet es einer der Bauarbeiter, Ahmet Karakaya. Er heißt eigentlich anders, aber sein echter Name wird hier nicht genannt, weil er Angst hat, dass ihm etwas passieren könnte.
Anlass für all diese Maßnahmen war ein für den am nächsten Tag angekündigter Besuch einer Delegation aus Deutschland, die im Namen von DHL die Baustelle inspizieren sollte. Denn am Abend des 30. Oktobers war der 19-jährige Mehmet Aydın, ein Bauarbeiter, auf dieser Baustelle gestorben. Sein Kollege Ahmet Karakaya sah, wie am Tag vor dem DHL-Besuch der Aufzugschacht gereinigt wurde, in den Mehmet Aydın zuvor gestürzt war: „Es war alles voller Blut. Die Flecken wurden mit Gipspulver überdeckt.“
Aydın ist nicht der erste Tote, den dieser Flughafen gefordert hat. Er ist einer von 58 bekannten Todesfällen. Es sind Arbeiter, die für die möglichst rasche und kostensparende Verwirklichung dieses Megaprojekts mit dem Leben bezahlen mussten. Unter lebensgefährlichen Arbeitsbedingungen mussten sie oft über ihre vorgesehenen Schichten hinaus arbeiten. Nur so konnte der Istanbuler Flughafen, dessen Fläche mehr als fünfmal größer ist als jene des BER in nur 42 Monaten so weit fertiggestellt werden, dass er im Oktober 2018 eröffnen konnte.
Auf der Flughafenbaustelle ist ein System von Subunternehmern entstanden, das selbst die Verantwortlichen nicht mehr überblicken. Ein System, das die Kosten für die Flughafenbetreiber mit jeder Weitergabe eines Auftrags gesenkt hat. Und vor allem ein System, das es den Unternehmen ermöglichte, die Verantwortung von sich zu schieben, wenn Arbeiter nicht bezahlt, verletzt oder gar getötet wurden.
Mehmet Aydın starb im Rohbau eines Verteilerzentrums des Logistikzentrums. Er ist der erste, der nachweislich im Verantwortungsgebiet eines internationalen Auftraggebers gestorben ist: das deutsche Logistikunternehmen DHL, das hier auf einer Fläche von 34.000 Quadratmetern und mit einem Investitionsvolumen von 135 Millionen Euro ein internationales, logistisches Drehkreuz errichtet.
Im April veröffentlichte taz gazete ein Dossier über den neuen Istanbuler Flughafen, einem Prestigeprojekt von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan. Im Rahmen der Recherche haben wir auch die wichtigsten deutschen Unternehmen kontaktiert, die sich bei dem Flughafenprojekt engagieren: ThyssenKrupp lieferte alle 143 Fluggastbrücken, Heinemann übernimmt das lukrative Duty Free-Geschäft und DHL baut ein Logistikzentrum.
Der Bau hatte während unserer Recherche noch nicht begonnen. Als Baubeginn war der Jahresbeginn 2019, die Inbetriebnahme für 2020 geplant – und die Unternehmenskommunikation hielt sich auf Nachfragen über türkische Partner für die Bauarbeiten bedeckt. „Aufgrund der geografisch günstigen Lage der Türkei und dem damit in den vergangenen Jahren gewachsenen Bedarf, werden wir an diesem Standort unsere Kapazitäten entsprechend ausbauen“, hieß es damals. Und: „Weitere Details können wir Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt leider nicht nennen“.
Jetzt, nachdem der 19-jährige Mehmet Aydın tot ist, steht die Baufirma Berko İnşaat als Generalunternehmer für DHL im Fokus. Hat die türkische Firma, die von dem deutschen Logistik-Riesen DHL mit dem Bau des Zentrums beauftragt wurde, alle notwendigen Sicherheitsvorkehrungen getroffen? Hat das deutsche Unternehmen DHL überprüft, ob sein Auftragnehmer Berko İnşaat die Sicherheitsstandards erfüllt?
Mehmet Aydın arbeitete für den Subunternehmer HT Mekanik, zusammen mit seinem älteren Cousin, der den gleichen Namen trägt. Der 36-jährige Mehmet Aydın war vor Ort, als sein jüngerer Cousin tödlich verunglückte. Am Telefon erzählt er taz gazete, was am 30. Oktober geschah: Die Arbeiter hatten an dem Tag schon seit acht Uhr morgens auf der Baustelle gearbeitet und mussten nach ihrer Schicht bis abends um halb acht Überstunden leisten. Dann packten sie ihre Sachen zusammen. Durch die Dunkelheit der unbeleuchteten Baustelle bewegten sie sich mithilfe des Lichts ihrer Mobiltelefone in Richtung Treppenhaus. Sein jüngerer Cousin war fünf Meter hinter Mehmet Aydın.
Als Aydın seinen Fuß auf die Treppenstufen im dritten Obergeschoss setzte, hörte er einen Schrei seines Cousins. Dann einen Aufprall. Der 19-jährige Mehmet Aydın war in einen ungesicherten Aufzugsschacht gestürzt, den er vermutlich im Dunkeln für den Eingang zum Treppenhaus gehalten hatte. Er stürzte 20 Meter hinab ins Kellergeschoss. Aydın rannte die Treppen hinab und fand den leblosen Körper seines Verwandten am Boden des Aufzugschachtes. „Ich nahm ihn in den Arm und bekam einen Schock“, sagt er. „Ich wurde ohnmächtig. Es gab weder Krankenwagen noch Arzt. Nach einer halben Stunde kam ein Staatsanwalt zusammen mit der Gendarmerie. Sie nahmen ein Protokoll auf.“
Am Tag nach dem Tod von Mehmet Aydın streikten rund 300 Arbeiter auf der Baustelle. Aydıns Kollege Ahmet Karakaya berichtet taz gazete, dass der Baustellenleiter Barbaros Kosif seinen Arbeitern befohlen habe, die Arbeit sofort wieder aufzunehmen. Die Arbeiter weigerten sich laut Karakaya weiterzuarbeiten, bevor alle nötigen Sicherheitsvorkehrungen getroffen werden. Barbaros Kosif selbst ließ Anfragen von taz gazete unbeantwortet, ebenso seine Firma Berko İnşaat.
Nachdem am Samstag zwei Herren vom Arbeitsministerium gekommen waren, um die Baustelle zu inspizieren, nahmen einige der Arbeiter die Arbeit wieder auf. Doch beim Subunternehmer HT Mekanik, für den Mehmet Aydın bis zu seinem Tod gearbeitet hatte, stand der Betrieb bis Montag still. Als dann endlich die notwendigen Sicherheitsvorkehrungen getroffen wurden, normalisierte sich der Betrieb auf der Baustelle.
Aber musste erst ein 19 Jahre junger Mann sterben, bevor man sich über Arbeitssicherheit Gedanken machte? Und ein weiterer Verdacht steht im Raum: Wurden die Sicherheitsvorkehrungen erst eingeleitet, nachdem bekannt geworden war, dass eine Delegation aus Deutschland die Baustelle besuchen würde?
„Am 30.10. hat uns das Unternehmen Berko İnşaat Taahhut Sanayi Ticaret A.Ş., das mit den Bauarbeiten eines unserer Gebäude am Flughafen Istanbul beauftragt ist, darüber informiert, dass ein Mitarbeiter eines ihrer beauftragten Unternehmen durch einen Unfall auf dem Gelände tödlich verunglückt ist“, antwortet ein Sprecher von DHL auf die Anfrage von taz gazete zum Todesfall auf der Baustelle. Man arbeite „eng“ mit den Behörden vor Ort zusammen, man unterstütze die Untersuchungen „uneingeschränkt“.
Nachfragen über die getroffenen Sicherheitsmaßnahmen, über die konkrete Zusammenarbeit mit Berko İnşaat und den Wissensstand von DHL über die Sicherheitsstandards lässt der Sprecher unbeantwortet. Wegen der aktuellen Untersuchungen sei DHL nicht berechtigt, weitere Informationen zu geben. Nur so viel: „Unser tief empfundenes Mitgefühl gilt seiner Familie, allen Angehörigen und der Belegschaft von Berko Construction sowie aller Kolleginnen und Kollegen des Verstorbenen. Unsere Gedanken sind bei Ihnen allen.“ Weder DHL Türkei noch Berko haben hingegen unsere Anfragen beantwortet.
Ob DHL am Ende dieser Untersuchungen Verantwortung übernehmen wird, bleibt offen. Dieser Umgang erinnert aber an einen anderen Fall, der sich in der Türkei ereignete und bei dem auch ein deutsches Unternehmen involviert war: 2012 verbrannten in Istanbul elf Arbeiter, die ein Einkaufszentrum für den deutschen Auftraggeber ECE bauten. Das Unternehmen, das den Erben des Otto-Versand-Konzerns gehört, zog sich damals aus der Verantwortung. Die Begründung: Nicht ECE, sondern ein Subunternehmen sei dafür verantwortlich gewesen, wie die Bauarbeiter untergebracht werden. Die Bauarbeiter wurden getötet, weil ihre Zeltunterkünfte bei der Baustelle nicht feuerfest waren.
Das in der Türkei eröffnete Verfahren dauert noch an. Seit sieben Jahren warten die Familien der Bauarbeiter, die bei dem Zeltbrand ihr Leben verloren, auf Gerechtigkeit. Die Verantwortung für den Tod von Arbeitern, die für Subunternehmen tätig gewesen sind, trage der Hauptauftraggeber, betont die Dozentin für Stadt- und Gebietsplanung von der Mimar Sinan Universität, Aslı Odman. „Sowohl rechtlich, als auch moralisch ist die Hauptfirma verantwortlich.“
Der Arbeiter Ahmet Karakaya ist überzeugt, dass der Tod von Mehmet Aydın hätte verhindert werden können. Aydın starb, weil er im Dunkeln auf die falsche Stelle getreten ist, in den Aufzugsschaft statt auf eine Stufe. „Die Beleuchtung hätte pro Stockwerk 2.000 Lira gekostet. Das sind 6.000 Lira (rund 940 Euro) für das gesamte Gebäude“, erklärt er. Die Baustellenleitung habe den tödlichen Arbeitsunfall sehenden Auges in Kauf genommen und versuche jetzt die auffälligsten Mängel zu überdecken. Die Arbeitssicherheit auf der DHL-Baustelle beschränkt sich Karakaya zufolge auf Warnwesten und Arbeitsschuhe.
„Der Bauunternehmer interessiert sich nicht für unsere Sicherheit. Für sie sind Menschen nur Material.“ Wiederholt hätten Arbeiter den Zuständigen gemeldet, dass die Baustelle abends nicht beleuchtet sei und die offenen Kabel im Keller wegen Regenfällen nass geworden seien. Bis zum Todesfall ohne Folgen. Jetzt nach dem Todesfall habe man all diese Vorkehrungen getroffen. Die Bauarbeiten sollen wie geplant bis Ende dieses Jahres abgeschlossen werden.
Mehmet Aydın, der Cousin des toten Bauarbeiters, reiste am Tag nach dem tödlichen Unfall mit dem Leichnam nach Van, in die Heimatstadt der beiden. Seit einer Woche bekommt die Familie Kondolenzbesuche. Nur von der Firma Berko hat sich noch niemand gemeldet. „Ich verstehe nicht, warum sie nicht einmal angerufen haben“, sagt Aydın. Arbeiter von der Baustelle hätten sich solidarisiert. Dass es nach dem Unfall zu Arbeitsniederlegungen kam, sei das einzige gewesen, das den trauernden Angehörigen etwas Trost gespendet habe.
Auch Aydın ist überzeugt, dass der Arbeitsunfall auf der DHL-Baustelle hätte verhindert werden können. Er selbst habe die für die Sicherheit zuständigen Vorarbeiter mehrmals darauf hingewiesen, dass die Baustelle beleuchtet werden muss. „Bei Schichtschluss ist es stockfinster. Wir mussten jeden Arbeitsweg mit unseren eigenen Telefonen ausleuchten.“ Aber die Baufirma interessiere sich ausschließlich für die Fortschritte auf der Baustelle.
Es habe großer Druck geherrscht, andauernd Überstunden zu arbeiten. „Die normale Schicht geht von morgens um acht bis abends um fünf. Aber wir haben jeden Tag von acht bis acht gearbeitet, weil darauf bestanden wurde. Aber man kann nicht jeden Tag Überstunden machen. Wenn man eh nur Mindestlohn bekommt, kann man auf die bezahlten Überstunden echt scheißen“, sagt der Cousin des Verunglückten. „Ich hätte lieber im Dorf bleiben und Hirte werden sollen.“
Aber das ist nur ein Traum. Sein Chef von HT Mekanik, der die Familie des Verstorbenen in Van besucht hat, hat Mehmet Aydın versichert, dass er jederzeit zurückkehren könne, wenn er dazu bereit sei. Doch Aydın weiß nicht, ob er an die Baustelle zurückkehren wird. Auf der einen Seite gibt es dort zu viele schlechte Erinnerungen, das Bild seines toten Cousins. Auf der anderen Seite muss er Rechnungen und Kredite abzahlen. In der Wirtschaftskrise gebe es keine anderen Jobs. „Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich werde noch ein paar Tage warten und sehen.“
Übersetzung: Oliver Kontny