Das Erinnern an die Opfer des Anschlags in Mölln 1992 fand unter erhöhten Sicherheitsvorkehrungen statt. Die Rednerin İdil Baydar hatte Morddrohungen erhalten.
Es ist ein regnerischer Sonntagnachmittag in Frankfurt, dunkel und kalt – und trotzdem sind hunderte Menschen zur Möllner Rede im Exil ins Historische Museum gekommen. Im Saal, in dem gleich die Gedenkveranstaltung stattfinden soll, sitzen weit mehr als 200 Gäste. Junge und ältere Menschen, weiße Deutsche und Menschen of Color. In der Hoffnung, doch noch in den Saal zu kommen, stehen viele Menschen noch draußen. Am Eingang führen Mitarbeiter*innen einer Securityfirma Einlass- und Taschenkontrollen durch.
In der Nacht auf den 23. November 1992 waren Yeliz Arslan, Ayşe Yılmaz sowie ihre Großmutter Bahide Arslan bei Brandanschlägen in Mölln ermordet worden. Neonazis hatten Molotowcocktails in ihre Wohnung geworfen. Gerade einmal vier Jahre war die Möllner Rede Teil des offiziellen Gedenkens der Stadt Mölln. Dass die Familie und die Angehörigen die Redner*innen selbst aussuchen, schien nicht länger erwünscht. Als kritische Bestandsaufnahme zu gesellschaftlichem Rassismus, Neonazismus und Umgang mit Gedenken findet die Rede seitdem im Exil statt – dieses Jahr in Frankfurt unter besonderen Sicherheitsvorkehrungen.
Denn die Schauspielerin und Kabarettistin İdil Baydar, die neben Angehörigen der Familie Arslan und Yılmaz die zentrale Rede der diesjährigen Veranstaltung hält, hatte im Vorfeld erneut rassistische Morddrohungen per SMS erhalten. Bereits im Frühling war sie auf ihrem Mobiltelefon rassistisch bedroht worden. Baydar spricht in ihrer Rede über die Drohungen: „Wenn du am 17.11.2019 die Möllner Rede im Exil hältst, knalle ich dich ab,“ lautete die letzte Nachricht. Absender: „SS-Obersturmführer“. Es ist die achte Morddrohung, die sie in diesem Jahr erhielt. Ein Raunen geht durch das Publikum. Wovor sie denn jetzt noch Angst haben solle, fragt Baydar weiter in ihrer Rede. „Was habt ihr Rechten denn noch nicht gemacht, was wir fürchten müssten?“
Baydar hält eine emotionale Rede. Sie ist sehr persönlich, aber auch bestimmt – und klagt an: „Die Tränen, die mir 1992 über die Wangen liefen, sind nicht getrocknet, sie laufen weiter. In den letzten Jahren brannten nicht nur Häuser, in denen Migranten leben. Es werden vor Synagogen, vor Moscheen, vor Flüchtlingslagern, vor Kebapläden, vor der Arbeit, vor dem Zuhause Anschläge verübt von Rechtsextremen, wo es doch vor nicht allzu langer Zeit noch hieß: ‚Nie wieder! Wehret den Anfängen!‘ Aber es fing an, und hörte nicht auf.“ Sie habe Angst, ja. Aber sie habe auch Wut, betont Baydar in ihrer Rede.
Schockiert war der Vorbereitungskreis der Möllner Rede im Exil von der Entscheidung der Sicherheitsbehörden, ausgerechnet das Erste Frankfurter Polizeirevier für den Schutz der Veranstaltung zuständig zu erklären. Beamte des Ersten Frankfurter Polizeireviers werden verdächtigt, im vergangenen Jahr Drohfaxe an die Frankfurter Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız verschickt zu haben. Başay-Yıldız hatte Opferfamilien im NSU-Prozess als Nebenklägerin vertreten.
Seitdem die Drohungen gegen İdil Baydar bekannt sind, werden die Veranstalter*innen, zu denen unter anderem das Bündnis „Kein Schlussstrich Hessen“ und die „Initiative Schwarze Menschen in Deutschland“ (ISD) gehören, von der hessischen Beratungsstelle response begleitet, die in der Bildungsstätte Anne Frank angesiedelt ist. Response unterstützt Betroffene von rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt. „Rechte Gewalttaten oder auch deren Androhung richten sich nicht nur an die betroffene Person selbst. Sie sollen zudem als Botschaftstaten wirken, die klar darauf abzielen, auch andere einzuschüchtern, die sich öffentlich gegen rechts engagieren, oder von Rassismus bedroht sind,“ sagt Olivia Sarma, Leiterin von response.
Um das Museum herum stehen Mannschaftswagen. Im Saal selbst ist aber keine Polizei zu sehen. Dafür stehen links und rechts zahlreiche Security-Mitarbeiter. Die Stimmung im Saal wirkt trotzdem nicht angespannt. Und dann, am Ende ihrer Rede, zählt Baydar Opfer rassistischer und rechter Gewalt auf: Alberto Adriano, die Opfer des NSU, den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke und die Opfer von Halle sowie Oury Jalloh und Burak Bektaş.
In Baydars Rede geht es neben dem Gedenken auch um Solidarität. Etwas, was auch İbrahim Arslan in seiner Ansprache immer wieder betont. „Wir brauchen Solidarität und das Sprechen über Rassismus und Rechtsterrorismus“ sagt er. Im Mittelpunkt haben dabei die Betroffenen zu stehen. „Opfer und Überlebende sind keine Statist*innen, sondern die Hauptzeugen des Geschehenen. Das Gedenken ohne Betroffene ist eine Inszenierung. Es gibt einen großen Unterschied zwischen solidarischem Gedenken und Gedenken zur Imagepolitik.“
İbrahim Arslan überlebte als Siebenjähriger den rassistischen Anschlag, weil seine Großmutter Bahide ihn in nasse Handtücher wickelte und in die Küche brachte. Seit 2007 engagiert er sich dafür, dass die Perspektiven von Betroffenen sicht- und hörbar gemacht werden. Nicht die Täter*innen sollen im Vordergrund stehen, sondern die Opfer und die Betroffenen. Mangelndes Vertrauen in die Politik und in die Sicherheitsbehörden, damals wie heute, ist sowohl bei Baydar als auch bei İbrahim Arslan ein Punkt in ihrer Rede.
İbrahim Arslans Worte sind klar und bestimmt. Und sie kommen bei dem Publikum an: Als er Kritik an der Täterfokussierung der weißdeutschen Mehrheitsgesellschaft übt und strukturellen Rassismus anspricht, verlässt eine Gruppe weißer Menschen still den Raum. Was macht eigentlich dieses Setting, Gedenken unter Polizeischutz, mit einem? „Gar nichts,“ sagt İbrahim Arslan. Er sei diese Drohungen schon gewohnt. Struktureller und institutioneller Rassismus, Anfeindungen – dem sei er jeden Tag ausgesetzt. „Wir können unsere Hautfarbe oder unser Aussehen nicht einfach ablegen. Unsere Existenz ist daher schon Widerstand. Wir werden trotzdem auf die Straßen gehen.“
Neben Baydar und İbrahim Arslan sprechen auch Namık, Yeliz und Faruk Arslan. Zudem werden Grußworte weiterer Betroffener von rechter und rassistischer Gewalt verlesen, unter anderem die von Osman Taşköprü, dem Bruder des 2001 vom NSU ermordeten Süleyman Taşköprü. Auch wird mit einem Gedicht der Schriftstellerin Semra Ertan gedacht. Semra Ertan hatte sich 1982 aus Protest gegen zunehmenden Rassismus in Hamburg selbst verbrannt.
Mahmood, 35, aus Frankfurt sitzt in der dritten Reihe. Er ist sichtlich gerührt – wie die meisten Menschen im Saal. Ihm war es wichtig, heute hier zu sein. Seine Eltern flüchteten aus ihrer Heimat, da war er noch wenige Monate alt. Er ist in Deutschland groß geworden: „Ich bin hier, weil ich der Opfer und Betroffenen von rechter Gewalt gedenken und mich solidarisieren will“, sagt er. „Solche Veranstaltungen sind wichtig, um der Mehrheitsgesellschaft deutlich zu machen, dass es keinen plötzlichen ‚Rechtsruck‘ gibt, sondern dass wir hier von historischen Kontinuitäten sprechen. Rechtsextreme sind nichts Neues. Sie waren schon immer da, aber Deutschland hat sie über Jahrzehnte hinweg ignoriert, und somit rassistische und antisemitische Angriffe bagatellisiert.“
Kurz bevor er den Raum verlässt, hält er noch einmal kurz inne, dreht sich um und sagt: „Ach und schauen Sie, wer heute hier anwesend ist, und wer nicht. Wo sind die Vertreter*innen der Politik? Wo ist der Bürgermeister? Ich finde, das zeigt schon sehr deutlich, wie wichtig wir diesem Staat sind.“