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Seit İmamoğlu Istanbul regiert, boykottieren einige Ministerien den städtischen Wasserlieferanten

Alle wollen Wasser von Hamidiye

Vom Boykott zum Verkaufsschlager: Wie die Wassermarke Hamidiye Su in der Türkei unverhofft zum politischen Symbol gegen die Regierung wurde.

MINEZ BAYÜLGEN, 2019-11-22

Für den 28-jährigen Hayri ist die Arbeit beim Istanbuler städtischen Trinkwasser-Lieferanten Hamidiye Su in den letzten Wochen anstrengend geworden. Am Telefon nimmt er die Bestellungen von Kund*innen entgegen und organisiert die Aufträge für die Auslieferer. Seit drei Jahren macht Hayri diesen Job und normalerweise klingelte das Telefon durchschnittlich alle zwanzig Minuten einmal. Das hat sich im vergangenen Monat schlagartig geändert: „Ich komme kaum noch mit den Bestellungen hinterher. Alle wollen das Wasser von Hamidiye trinken“, sagt er.

Es scheint, dass eine PET-Flasche Trinkwasser in der heutigen Türkei zu einem politischen Symbol geworden ist. Hamidiye Su ist eine der ältesten Wassermarken Istanbuls: Sultan Abdulhamid II. ließ ab 1902 Quellwasser abfüllen, um der wachsenden Stadtbevölkerung Istanbuls Trinkwasser zur Verfügung zu stellen. Der Betrieb ging in den Besitz der Stadt Istanbul über, die heute Haupteigentümer des Unternehmens ist. Leitungswasser trinkt in Istanbul niemand, die meisten Privathaushalte und Firmen kaufen Trinkwasser in 19-Liter-Plastikgallonen für Wasserspender. Seit Jahren ist der Traditionsbetrieb mit dem osmanischen Namen die erste Wahl für die wichtigsten Behörden und öffentlichen Einrichtungen der Türkei.

Das änderte sich, nachdem die CHP Ende Juni endgültig die Istanbuler Kommunalwahlen gewonnen hatte. Der neue Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu besuchte den Betrieb im September. Die Vorstandsvorsitzende Şengül Altan Arslan wurde in die Geschäftsleitung der Istanbuler Stadtverwaltung geholt. Plötzlich erneuerten einige Ministerien und öffentliche Unternehmen ihre Verträge mit Hamidiye Su nicht mehr. Wasserbestellungen in der Höhe von umgerechnet fast 300.000 Euro seien gekündigt worden, sagte der Istanbuler CHP-Abgeordnete Turan Aydoğan im Oktober im türkischen Parlament. Er vermutet hinter dem Boykott eine Racheaktion der Regierung.

Mit einem jährlichen Haushalt von 60 Milliarden türkischen Lira und 30 Großfirmen ist die Stadt Istanbul ein mächtiger Player in der türkischen Volkswirtschaft. Die Istanbuler Stadtverwaltung gilt als der Ort, an dem sich das politische Schicksal der Türkei wendet. In den vergangenen 25 Jahren war die Kommune fest in den Händen von Bürgermeistern aus der Tradition des politischen Islam, Erdoğan tat alles, um sie nicht zu verlieren. Als bei den Kommunalwahlen am 31. März dennoch İmamoğlu gewählt wurde, erzwang Erdoğan eine Wahlwiederholung, bei der der CHP-Kandidat haushoch gewann. Die AKP musste ihm die Kommune überlassen. Seither versucht die Regierung, den Einflussbereich der Stadtverwaltung einzuschränken.

Boykott geht nach hinten los

Dass öffentliche Einrichtungen Hamidiye Su boykottieren, löste eine Gegenbewegung der Kund*innen aus. Der Sprecher der CHP-Fraktion in der Istanbuler Bürgerschaft, Tarık Balyalı, verkündete eine Verdreifachung der Verkaufszahlen. Die Marke sei im Inland und Ausland schlagartig bekannter geworden. Hamidiye Su wollte seine aktuellen Verkaufszahlen gegenüber taz gazete nicht offenlegen.

Bei dem Wasserlieferanten Adem laufen die Geschäfte derzeit nicht gut. Seit sieben Jahren arbeitet er in Beyoğlu als Franchisenehmer für eine der führenden Wassermarken in der Türkei. Der Mann um die 30 möchte weder seinen Nachnamen noch den der Firma veröffentlicht sehen. Aber er erzählt mürrisch, wie er nach und nach Kunden verliert, denen er jahrelang Trinkwasser geliefert hat. Viele Menschen reagierten auf die Boykottkampagne, indem sie bewusst zu Hamidiye wechselten. „Meine Kunden wehren sich gegen den Boykott, und ich muss sagen, sie haben recht. Es war völlig überflüssig von der AKP, so ein Geschrei um Wassergallonen zu machen“, sagt er.

Der aufsehenerregendste Kommentar inmitten der Diskussionen um Hamidiye Su stammte von Burhan Kuzu, einem ehemaligen AKP-Abgeordneten. Er behauptete zu wissen, dass das Wasser von Hamidiye unter äußerst unhygienischen Bedingungen abgefüllt werde und stark verschmutzt sei. Kuzu hatte zwar keine Laborwerte, auf die er hätte verweisen können, aber er wusste, dass in den Plastikgallonen von Hamidiye sogar Tang wächst. Pikant daran war, dass die AKP jahrelang ein genau gegenteiliges Image der Marke aufgebaut hatte. Das Wasser, das Kuzus Partei und die meisten staatlichen Institutionen in der Türkei bevorzugt tranken, wurde seit 2013 in Mengen von mehr als 2.000 Tonnen Wasser pro Tag verarbeitet. Rund 30.000 Gallonen produzierte Hamidiye täglich.

Daher widersprach der ehemalige Vorstandsvorsitzende der Firma, Kenan Kılıç, deutlich und konkret. Er verwies auf frühere Interviews, in denen er die Mineralwerte und den geringen Bakteriengehalt des Trinkwassers angepriesen hatte. Für Kılıç war und ist Hamidiye eine der besten Wassermarken der Türkei. Kurz gesagt: Bis Ekrem İmamoğlu gewählt wurde, war die Hygiene bei Hamidiye nie ein Diskussionsthema. Es scheint, dass das Wasser im Nachgang der Wahlen kontaminiert wurde.

Um der CHP eins auszuwischen, beschädigt die AKP nicht nur eine Marke, die sie selbst aufgebaut hat, sondern zugleich ihre strategischen Ziele. Denn die AKP hatte in ihrer omnipräsenten politischen Vision zum hundertjährigen Bestehen der Republik 2023 unter vielen Zahlen auch die Zielmarke genannt, jährlich Trinkwasser im Wert von 300 Millionen Dollar zu exportieren. 20 Prozent davon sollten laut dem Papier mit Hamidiye Su bestritten werden. 2005 stieg die Firma ins Exportgeschäft ein und liefert heute in 28 Länder – unter anderem auch nach Deutschland.

Wie Wasser zum Gegenstand politischer Kämpfe wird

Die AKP verhalte sich so, weil sie im Prinzip wie eine gigantische Firmengruppe funktioniere, sagt der Sozialwissenschaftler Fatih Yaşlı, der sich mit den Konflikten zwischen dem rechten und linken Lager in der Türkei beschäftigt. Yaşlı zufolge konnte die Regierungspartei insbesondere über die Kommunen hohe Renditen im Bausektor abschöpfen und im ganzen Land ein weitverzweigtes Netz von Firmen mit kommunaler Beteiligung aufbauen. Mitglieder dieses Netzwerks verfolgen das erklärte Ziel, sich in ihren Geschäftsbeziehungen gegenseitig Profite zuzuschieben und Win-win-Situationen auf Kosten der öffentlichen Haushalte zu schaffen.

Hamidiye Su war Teil dieses Netzwerks – bis die Firma aufgrund des Wahlergebnisses aus der Hand der Regierung geriet. Fatih Yaşlı geht davon aus, dass die Regierung daraufhin die nach wie vor von ihr kontrollierten Firmen, öffentlichen Unternehmen und Behörden angewiesen hat, zu anderen Wasseranbietern zu wechseln. Man wolle nicht, dass die aus den Verkäufen generierten Einnahmen der CHP in die Hände fielen. „Hamidiye Su war ein Leuchtturmprojekt der regierungstreuen Kreise, jetzt wird die Firma zum Liebling all jener, die die Opposition unterstützen“, sagt Yaşlı. „Über Nacht wurde eine Wassermarke zum Gegenstand politischer Kämpfe.“

Die 38-jährige Demet griff zum Telefon, sobald sie vom Hamidiye-Boykott erfuhr. Sie erklärte dem Lieferanten, der sie jahrelang mit Wasser einer bekannten Konkurrenzmarke versorgt hatte, dass sie aufgrund der AKP jetzt lieber Wasser von Hamidiye trinken möchte. Es macht sie wütend, dass die Regierungspartei der neuen Istanbuler Stadtverwaltung mit derartigen Spielchen ein Bein stellen möchte. Ob das Wasser nun besser oder schlechter schmeckt, ist ihr ziemlich egal. „Worum es mir geht, ist, dass die Regierung nicht eine Wassermarke benutzen darf, um die CHP dafür zu bestrafen, dass sie Wahlen gewonnen hat“, sagt sie. Demet ist sich sicher, dass die AKP mit Reaktionen aus der Bevölkerung zu rechnen habe, solange sie die Stadtverwaltung in ihrer Arbeit behindert.

Der Versuch, Hamidiye zu boykottieren, war weder die erste noch die letzte Initiative dieser Art. Ihre Verluste in den östlichen Provinzen des Landes versuchte die AKP zu kompensieren, indem sie die gewählten Bürgermeister*innen mittlerweile fast aller kurdischer Kommunen absetzen und durch Zwangsverwalter ersetzen ließ. Im Westen des Landes fährt sie eine andere Strategie. So vergab die staatliche Eisenbahn die Ausschreibung für die Umgestaltung der historischen Istanbuler Bahnhöfe Haydarpaşa und Sirkeci zu Kulturzentren nicht an die Stadtverwaltung, sondern an eine Consulting-Firma. Gleichzeitig kündigte das Umweltministerium an, die Entscheidungskompetenz über den Bosporus aus den Händen der Stadtverwaltung Istanbuls zu nehmen und einer vom Staatspräsidenten zu ernennenden Kommission zu übergeben. Der Gesetzentwurf muss noch durchs Parlament. Der nächste Konflikt bahnt sich also bereits an.

Aus dem Türkischen von Oliver Kontny

MINEZ BAYÜLGEN, 2019-11-22
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