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„Ich werde mir nicht nehmen lassen, was mir zusteht“, sagt Mihriban Yıldırım

Keine Wiedergutmachung des Unrechts

Mihriban Yıldırım wurde nach dem Putschversuch suspendiert. Nun darf sie an die Uni zurückkehren – zu den Bedingungen der Regierung.

BEYZA KURAL, 2019-12-05

Das Leben von Mihriban Yıldırım aus Trabzon an der türkischen Schwarzmeerküste hat sich in einer Septembernacht im Jahr 2016 mit der Veröffentlichung einer Liste schlagartig geändert. Die 30-Jährige wurde von ihrem Dienst als Assistenzärztin an der Karadeniz Teknik Üniversitesi suspendiert. Gegen sie war ein Strafverfahren wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung eingeleitet worden. Der angehenden Psychiaterin wurde zur Last gelegt, die App Bylock auf ihrem Telefon installiert zu haben. Der Messengerdienst wurde auch von Mitgliedern der Gülen-Bewegung genutzt, die für den Putschversuch 2016 verantwortlich gemacht werden.

Das Gericht stellte fest, dass der Anschuldigung jede Grundlage fehlt. Yıldırım wurde im Oktober 2017 freigesprochen. Doch der Freispruch bedeutete nicht, dass sie auch ihre Arbeit wieder aufnehmen konnte. Darauf musste sie noch zwei weitere Jahre warten. Damit wurde die Ungerechtigkeit, die ihr widerfahren war, jedoch bei weitem nicht wiedergutgemacht. „Eines Tages im November bekam ich einen Anruf vom Hochschulrat, in dem mir mitgeteilt wurde, dass ich in den Dienst zurückkehren könnte. Ich dachte, jetzt hätte ich endlich bekommen, was mir zusteht.“ Doch die Freude hielt nicht lange an.

Auch wenn der Ausnahmezustand, der nach dem Putschversuch 2016 verhängt wurde, im Juli 2018 nach zwei Jahren aufgehoben wurde, dauern die Rechtsverletzungen an. In diesen zwei Jahren wurden insgesamt 134.144 Personen von ihrem Dienst suspendiert, davon 6.081 Akademiker*innen. Viele Verfahren, die in den vergangenen drei Jahren eröffnet wurden, sind zwar inzwischen eingestellt, die Freigesprochenen konnten jedoch selten an ihre Arbeitsplätze zurückkehren. Die Untersuchungskommission, die seit Mai 2017 die Einsprüche gegen die Entlassungen überprüft, hat bis zum 25. Oktober 2019 92.000 von 126.200 Beschwerden bearbeitet. Sie gab 8.100 Anträgen statt, 83.900 wurden abgelehnt.

Als Mihriban Yıldırım erfuhr, dass sie an die Universität zurückkehren darf, war sie gerade nach Istanbul gezogen. Nach ihrer Suspendierung hatte sie zwei Jahre lang als Frauenbeauftragte bei der Gewerkschaft der Beschäftigten des Sozial- und Gesundheitswesens und für den Türkischen Ärztebund in Trabzon gearbeitet. Doch in ihrem Beruf eine Arbeit zu finden, war für sie schwierig, weil die Lokalzeitungen in Trabzon sie nach ihrer Suspendierung zur Zielscheibe machten. Nach zwei Jahren zog Yıldırım nach Istanbul, wo sie eine Stelle in einem Privatkrankenhaus fand.

Jeder Provinz eine Universität

Nun konnte sie ihre alte Arbeit wieder aufnehmen, doch der Hochschulrat stellte Bedingungen: Yıldırım durfte weder an ihre frühere Universität zurückkehren noch an eine Universität in Istanbul, Ankara und Izmir, den drei größten Metropolen des Lands. Die Hochschule musste zudem nach 2006 gegründet worden sein. Yıldırım, die zuvor an einer renommierten Universität ausgebildet wurde, befürchtet nun, dass ihre Facharztweiterbildung darunter leiden wird. “Um Psychiaterin zu werden, brauche ich noch drei weitere Jahre Fortbildung an einer Universität, die dafür personell ausgestattet ist“, erklärt sie. „Jetzt kann es sein, dass ich an einer ganz neuen Uni arbeiten muss.“

Vor einer ähnlichen Entscheidung stehen viele Menschen, die von ihrem Dienst suspendiert worden sind. Menschen, deren Unschuld die Gerichte festgestellt haben, sollen nun ihren Wohnort wechseln, um wieder arbeiten zu können. Es ist kein Zufall, dass diese Personen, die nun wieder in ihren Dienst zurückkehren sollen, an die nach 2006 gegründeten Universitäten außerhalb der drei Großstädte geschickt werden. Denn im Jahr 2006 begann eine Zeitenwende in der Hochschulpolitik, die die AKP unter dem Motto “Jeder Provinz eine Universität“ einleitete. Seitdem wurden 55 staatliche Universitäten gegründet, die sich zum Großteil außerhalb der Großstädte befinden.

Diese aus dem Boden gestampften Universitäten kämpfen schon eine Weile mit Lehrkräftemangel. Teil der Personalpolitik der AKP war es, vakante Stellen an den renommierten Universitäten mit Lehrbeauftragten der neu gegründeten Universitäten zu besetzen. So wurden die per Dekret entlassenen Akademiker*innen, die auf wissenschaftliche Unabhängigkeit und kritisches Denken Wert gelegt hatten, durch AKP-nahe Dozent*innen ersetzt. Mit den Notstandsdekreten wurden also nicht nur Menschen um ihr Recht gebracht, sondern auch die Institutionen durch staatliche Hand umgekrempelt.

Mihriban Yıldırım wird wohl bald wieder umziehen müssen, wenn die endgültige Entscheidung über ihre Versetzung getroffen wurde. Aufgrund der Krise in der Türkei sei die Zukunft ungewiss, sagt sie. Yıldırım weiß nicht, wohin sie versetzt wird. In manchen Fällen wurden die Geschassten an ihren neuen Arbeitsplätzen gemobbt. Ob sie weiter als Assistenzärztin arbeitet, wird sie erst entscheiden, wenn sie ihre neue Stelle antritt. Sicher ist für sie nur eins: “Ich werde auch weiterhin im Gesundheitswesen aktiv sein, in den Gewerkschaften und Berufskammern. Ich werde mir nicht nehmen lassen, was mir zusteht.“

Aus dem Türkischen von Julia Lauenstein

BEYZA KURAL, 2019-12-05
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