Wegen Corona wurden in der Türkei 90.000 Inhaftierte freigelassen. Politische Gefangene bleiben in Haft der Gefahr einer Infektion ausgesetzt.
Seit über drei Jahren ist der Reporter Nedim Türfent im Gefängnis, davon 18 Monate in Isolationshaft. Ende 2017 wurde er zu acht Jahren und neun Monaten Haft verurteilt, weil er über ein Video berichtet hatte, in dem Sondereinsatzkräfte auf dem Boden liegende, gefesselte kurdische Zivilist*innen rassistisch beleidigten. Aus dem Gefängnis hat er uns einen Brief geschrieben, der unsere Redaktion über Umwege erreichte. Er freut sich über Post, wenn sie zu ihm durchkommt: Nedim Türfent, Yüksek Güvenlikli Kapali Ceza Infaz Kurumu, A-49/Van
Ich bin ein politischer Gefangener, der nach wie vor im Hochsicherheitsgefängnis Van sitzt. Ich kann Ihnen sagen: Wir hören voller Staunen, wie Ankara behauptet, sämtliche notwendigen Vorkehrungen zum Schutz der in den Haftanstalten verbleibenden Gefangenen getroffen zu haben. In unserem Gebäudekomplex sind wir insgesamt 4.000 Gefangene und Schließer. Und zwischen allen von uns herrscht ständiger Kontakt.
Fast alle langjährigen Insassen haben Krankheiten, die sie zur Corona-Risikogruppe machen. Früher haben Gefangene zäh dafür gekämpft, Zugang zu medizinischer Behandlung zu bekommen. Aber jetzt will niemand mehr ins Krankenhaus – aus Angst, sich da mit dem Virus anzustecken.
Mein Zellengenosse Şahabettin Sırma erzählt mir, er sei letztens zum Anstaltsarzt gegangen und der habe ihm gesagt, er müsse eigentlich zum Kontrolltermin für seine Lungen-OP ins Krankenhaus, „Aber wenn du da hingehst, holst du dir mit 90-prozentiger Wahrscheinlichkeit das Virus.“ Sırma schlug sich die Kontrolluntersuchung schnell aus dem Kopf und kam zurück zu mir in die Zelle.
Die Regierung hat landesweit den kommerziellen Verkauf von Schutzmasken verboten. Nur uns in den Gefängnissen werden die Masken weiterhin nur gegen Geld herausgegeben. Als Grund nennen sie uns, dass die betreffende Anweisung vom Ministerium noch nicht schriftlich eingegangen sei. An Handschuhe kommen wir gar nicht erst dran, weder kostenlos noch gegen Geld.
Im gleichen Gefängnis wie ich sitzt der Mann, der die Studentin Ceren Özdemir ermordet hat. Von ihm sind in den Medien Bilder aufgetaucht, auf denen er mit Schutzmaske und Handschuhen zu sehen ist, während er vor der Kamera sitzt, die seine Aussage aus unserem Gefängnis live in den Gerichtssaal überträgt. Als ich zum Anstaltsarzt ging, um mir einen Zahn ziehen zu lassen, bekam ich weder Handschuhe noch Maske.
Das Essen wird hier für mehrere tausend Menschen unter unhygienischen Bedingungen zubereitet. Keine Ahnung, wer mit dieser Ernährung sein Immunsystem stärken kann. Und regelmäßig Hände waschen? Bei uns gibt es seltsamerweise warmes Wasser nur morgens um sechs, wenn wir noch schlafen. Wenn wir telefonieren wollen, werden wir von Personal mit Handschuhen durchsucht. Und zwar suchen sie den ganzen Tag über die Körper sämtlicher Gefangener mit den gleichen Handschuhen ab. Desinfektionsmittel? Fehlanzeige.
Dabei fing es doch so dienstbewusst an: In der ersten Woche wurde der Hof, auf dem wir Ausgang haben, ebenso mit Schläuchen abgesprüht wie die beiden Stockwerke der Zellentrakte. In der zweiten Woche ließen sie den Hof aus. Diese Woche kamen sie nicht mehr in den zweiten Stock zu uns. Ich bin schon gespannt, was nächste Woche passiert.
Hier geschieht so viel Unrecht, dass man es kaum aufschreiben kann. Aber auf ein paar von uns würde ich wenigstens gern die Aufmerksamkeit lenken. Insbesondere jetzt, wo die Männer, die ihre Ex-Partnerinnen grausam verstümmelt haben, zum Schutz vor einer möglichen Infektion ebenso auf freien Fuß gesetzt wurden wie die Diebe und korrupten Schmiergeldfresser, und nur noch wir politischen Gefangenen übrig sind...
Arafat Özek ist 68 und sitzt seit fast vier Jahren. Er hat noch zehn Monate Strafe abzusitzen. Wenn ihm der Virus da keinen Strich durch die Rechnung macht. Denn er hat Asthma, einen Kropf und chronische Atembeschwerden. Als ich ihn frage, ob er sich Sorgen macht, sagt er lächelnd: „Ich bin schon alt, der Tod steht vor der Tür. Das Virus scheint mir zuzuzwinkern. Aber so viele junge Menschen in diesem Land müssen einen so grausamen Tod sterben. Was soll ich mir da Sorgen um mich machen.“
Baki Alp ist laut Ausweis 71, in Wirklichkeit aber schon 74. Er sitzt erst seit zweieinhalb Jahren im Gefängnis. Denn er nahm an einer Pressekonferenz in Varto statt, das wurde ihm als Straftat ausgelegt, für die er insgesamt acht Jahre Haft verbüßen soll. Er hat Bluthochdruck und Herzprobleme.
Sinan Karar ist Journalist und sitzt seit dreieinhalb Jahren. Er hat Asthma und entwickelt aktuell eine chronisch obstruktive Lungenkrankheit. Ohne Inhalator kann er nicht mehr leben. Aber auch der reicht ihm oft nicht, er braucht dann Zugang zu einem Beatmungsgerät. Wenn er eine Schutzmaske trägt, bekommt Karar keine Luft mehr. Er hat also derzeit die Wahl zwischen Pest und Cholera.
Hikmet Kara ist 50 und sitzt schon fast so lange im Gefängnis, wie ich auf der Welt bin. 27 Jahre lang halten sie ihn schon hinter Gittern. Er hatte vier mal Magenbluten. Er leidet unter chronisch obstruktiver Lungenkrankheit, Herz, Diabetes und Bluthochdruck. Ich frage ihn, ob man ihm irgendwelche Schutzmaßnahmen zugesichert hat. Tatsächlich hat er dem zuständigen Ministerium, der Staatsanwaltschaft und der Gefängnisleitung schriftlich seine Situation geschildert, aber von keiner Stelle eine Antwort bekommen.
Was er über die Freilassung aller Gefangenen mit Ausnahme der politischen denkt? „Sie dient dazu, das faschistische Bündnis zwischen AKP und MHP enger zu schmieden.“ Die Amnestie sei genau auf die Bedürfnisse rechtsextremer Gangsterbosse wie Alaattin Çakıcı zugeschnitten. „Wer aber nur aufgrund seiner Gedanken im Gefängnis sitzt, wird dem sicheren Tod überlassen. Die Regierung hat offen gezeigt, dass sie Feindrecht gegen uns anwendet.“
16. April 2020
Aus dem Türkischen von Oliver Kontny