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Die Proteste im 2013 hatten sich ursprünglich gegen die Abholzung der Bäume im Gezi-Park gerichtet

Die unsichtbaren Gezi-Verfahren

Sieben Jahre nach den Gezi-Protesten mussten viele Menschen einen hohen Preis zahlen. Fernab vom Rampenlicht stehen sie für demokratische Protestkultur ein.

ELIF YALAZ, 2020-05-29

Emre Kaptan ist einer von Millionen Menschen, die sich vor genau sieben Jahren der Protestbewegung um den Gezi-Park anschlossen. Der heute 35-Jährige lebte damals in Izmir und sagt von sich, er habe bei den dortigen Protesten “an der vordersten Front“ gestanden. Am 22. Tag des Widerstands durchsuchte die Polizei seine Wohnung und nahm ihn fest. Nach vier Tagen und Nächten in Polizeihaft sei er in einen Kellerraum des Gerichtsgebäudes in Bayraklı gesperrt worden, wo es “nach Kanalisation gestunken“ habe. Schließlich habe er sich vor Gericht wiedergefunden. Auf eine Leinwand habe man die Namen von zwölf verbotenen Organisationen projiziert. “Der Richter zeigte uns die Liste und forderte uns auf, je eine davon zu wählen“, sagt Kaplan.

“Es war eine groteske Szene. Wir mussten uns eine Organisation aussuchen, als wären wir beim Gemüsehändler.“ Dann wurde er beschuldigt, die öffentliche Ordnung gestört zu haben – ohne jedoch der Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisaton bezichtigt zu werden. Kaptan wehrte sich gegen die Vorwürfe und wurde infolge gemeinsam mit 56 anderen Menschen in Untersuchungshaft genommen. Er blieb neun Monate inhaftiert und bekam viele unterstützende Briefe, über die er sich immer noch freut. “Völlig verdutzt standen wir eines Tages wieder auf der Straße“, erinnert er sich. “Wir hatten keine Ahnung, warum. Warum wir in Haft waren, warum wir plötzlich freikamen. Es war alles ziemlich bescheuert.“ Damals wusste er nur, dass das Verfahren gegen ihn nicht etwa eingestellt worden war.

Sieben Jahre sind seither vergangen. Die Proteste im Sommer 2013 hatten sich ursprünglich gegen die Abholzung der Bäume im zentralen Gezi-Park gerichtet und waren innerhalb kürzester Zeit in eine riesige Protestbewegung gegen die Regierung umgeschlagen. Unerwartet viele, größtenteils junge Leute beteiligten sich. Neun Menschen starben in den drei Wochen, die die Polizei brauchte, um die Proteste mit brutaler Gewalt zu ersticken – einer davon ein Polizeibeamter. Verletzt wurden schätzungsweise rund 10.000 Menschen.

Es hat zahllose Strafverfahren gegeben, das gleichnamige “Gezi-Verfahren“ ist nur das bekannteste davon. Der Unternehmer und Mäzen Osman Kavala sitzt seit 940 Tagen in Untersuchungshaft, die Staatsanwaltschaft wollte ihn und 15 weitere Angeklagte lebenslang hinter Gittern sehen. Die Anklageschrift bezeichnete die Gezi-Proteste in einer etwas schwer übersetzbaren Formulierung als “Zusammenrottung zum Putsch“, doch neun der Angeklagten wurden vom Vorwurf, die Proteste finanziert und orchestriert zu haben, im Februar 2020 freigesprochen. Gegen die sieben im Ausland lebenden Mitangeklagten geht die Staatsanwaltschaft jetzt in einem eigenen Verfahren vor. Direkt nach dem Freispruch fand sich für Kavalas Inhaftierung eine neue Begründung. Dennoch bestärkte das Urteil viele Oppositionelle in ihrer Ansicht, dass niemand für die Teilnahme an demokratischen Protesten verurteilt werden darf.

Weniger Aufmerksamkeit genießen die kleineren Strafverfahren, die ohne medienwirksame Gesichter und internationale Kampagnen ablaufen. Viele gewöhnliche Menschen sitzen im Gefängnis, weil sie an den Protesten teilgenommen haben.

Bitteres Exil

Emre Kaptan findet zwar eigentlich auch, “dass niemand für die Teilnahme an demokratischen Protesten verurteilt werden darf“. Doch an seiner Situation ändert das wenig. “Wir zahlen alle einen hohen Preis“, sagt er über die vielen Menschen, die in Haft saßen oder immer noch sitzen. Auch für Kaptan bedeutete die Haftentlassung nicht etwa Freiheit. Denn kurze Zeit später wurden in dem noch laufenden Verfahren Richter und Staatsanwälte ausgewechselt und bald darauf verurteilte das neue Personal Kaptan zu fast acht Jahren Haft. Kaptan floh aus der Türkei, statt seine Haftstrafe anzutreten.

Er schwamm durch den Grenzfluss Evros nach Griechenland und schlief dort drei Monate auf der Straße. Manchmal aß er zwei Tage lang an einem einzigen Weißbrot. Irgendwann begann er, bei Anstreicharbeiten auszuhelfen und Dinge zu reparieren. Er konnte Fuß fassen in Griechenland. Dennoch nimmt er sein Exil als Freiheitsberaubung wahr. Und tatsächlich sitzt er in Griechenland fest. Seine Tochter kam nach seiner Flucht in der Türkei auf die Welt, er hat sie noch nie gesehen. Sein Vater hatte Krebs und kam den Sohn ein letztes Mal besuchen. “Er kam nach Griechenland“, sagt Kaplan, “er sah mich an und starb drei Stunden später an meiner Seite.“

Währenddessen sitzt der Journalist Sami Tunca seit sechs Jahren in Tekirdağ in Haft, weil er an insgesamt 16 Protestaktionen der Gezi-Bewegung teilgenommen hat. Die Zeitung Yeni Evrede Mücadele Birliği (dt. etwa “Kampfbund“), für die er arbeitet, erscheint zwar regulär auf dem Markt, doch vor Gericht wurde sie als verbotene Publikation behandelt. Andere Beweismittel gegen Tunca gab es nicht – nur die Tatsache, dass er bei den Protesten dabei war und für besagte Zeitung schrieb. Verurteilt wurde er für “Mitgliedschaft in einer Terrororganisation und Terrorpropaganda“.

Seiner Anwältin Seher Dursun zufolge wurde Tunca vorgeworfen, Molotov-Cocktails geworfen zu haben. Die Staatsanwaltschaft legte Videoaufnahmen vor, auf denen Tunca am 1. Juni 2013 in Vermummung zu sehen sein soll. Ein Sachverständigengutachten konnte ihn auf den Aufnahmen nicht identifizieren, zumal die Staatsanwaltschaft tatsächlich noch andere Videos vom gleichen Protest vorgelegt hat, auf denen Tunca eindeutig zu erkennen ist, unvermummt und friedlich. Trotzdem bekam er 2016 eine Haftstrafe von zunächst 49 Jahren. Ein paar Jahre wurden ihm im Revisionsverfahren dann erlassen.

Schlechte Witze und echte Liebe

Im Mai 2016 schrieb Tunca an die Medienplattform Bianet: “Im Wesentlichen ging es darum, dass unsere Zeitung Kampfbund mit Fahnen und Bannern im Gezi-Park vertreten war.“ Das wurde den Aktivist*innen als Aufstachelung der Bevölkerung ausgelegt. “Als Herausgeber der Kampfbund wurde ich mit 50 Jahren Gefängnis bestraft. Ein schlechter Witz.“

Anwältin Seher Dursun beklagt, dass die meisten Verfahren gegen Arbeiter*innen und Studierende geführt wurden und weder bei der türkischen Opposition noch im europäischen Ausland besondere Beachtung fanden. Einige Gezi-Verfahren sind noch anhängig. Von Freisprüchen für alle Angeklagten könne nicht die Rede sein, so Dursun.

Wenn Emre Kaptan heute sieht, wie die griechische Polizei gegen Demonstrierende vorgeht, ist er im Kopf sofort bei Gezi. Es berührt ihn, dass der Jahrestag des Aufstandes in Griechenland jedes Jahr mit Erinnerungsveranstaltungen begangen wird. “Gezi war für mich Liebe und Solidarität. Ich bin froh, dabei gewesen zu sein“, sagt Kaptan. “Nie war ich Teil einer größeren Gemeinschaft. Und wenn es noch einmal passiert, werde ich wieder dabei sein. Das weiß ich.“

Aus dem Türkischen von Oliver Kontny

ELIF YALAZ, 2020-05-29
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