Seit 190 Tagen befindet sich Murat Sabuncu, Chefredakteur der Cumhuriyet im Gefängnis. Sein Sohn über die demokratischen Herausforderungen für beide „Republiken“.
Die Zeitung Cumhuriyet (dt.: Republik) ist derselben juristischen Willkür ausgesetzt wie auch die türkische Republik. Auf der einen Seite stehen Journalisten, die aufgrund absurder Beschuldigungen ihrer Freiheit beraubt werden, auf der anderen Seite eine Türkei, die sich dem illegitimen Beschluss der Hohen Wahlkommission (YSK) zum Referendumsergebnis beugt.
Im November 2016 wurden neun Mitarbeitende der Cumhuriyet festgenommen. Ihnen wird die Mitgliedschaft in diversen Terrororganisationen vorgeworfen. Unter ihnen befindet sich auch mein Vater Murat Sabuncu, Chefredakteur der Cumhuriyet. Die Verhaftungswelle hörte mit seiner Verhaftung nicht auf. Inzwischen sind der Herausgeber Akın Atalay, der Korrespondent Ahmet Şık und sogar ein Mitarbeiter aus der Buchhaltung, Emre İper, verhaftet worden.
Als Leser*innen wurden wir im Vorfeld des Referendums nicht nur der kritischen Stimmen jener Journalisten beraubt, die bei der Cumhuriyet arbeiten, sondern aller Medienschaffenden, die sich derzeit in Haft befinden. Eine unabhängige Presse, die zu einer freien Meinungsbildung hätte beitragen können, wurde verhindert.
In einer Zeit, in der das „Ja-Lager“ über das Monopol der freien Meinungsäußerung verfügte, bemühten wir uns vergebens um oppositionelle Informationen in Zeitung und Fernsehen. Nach einem schmerzhaften Referendumsergebnis hat die hohe Wahlkommission eine mehr als nur streitbare Entscheidung gefällt, die das Grundgesetz mit Füßen tritt und die Türkei der juristischen Willkür überlässt.
Auch nach dem Referendum erhielt ich, ähnlich wie nach der Verhaftung meines Vaters, eine Menge Solidaritätsbekundungen. Vor allem Freund*innen aus Europa schickten Nachrichten, die sich eher wie Beileidsbekundungen lasen, so als würde die Demokratie in der Türkei zu Grabe getragen werden.
Ihr alle, die pessimistische Prognosen in Bezug auf die Cumhuriyet und die türkische Republik verkündet: Ihr tut uns Unrecht! Vergesst nicht meinen Vater, seine Kolleg*innen und die Millionen Menschen, die im Kampf für Demokratie ihre Freiheit geopfert haben. Vergesst nicht das Engagement jener, die sich Tag für Tag dafür einsetzen, dass sich die Türkei zu einem Land entwickelt, in dem Menschen die Rechte und Freiheiten ihrer Mitmenschen respektieren, friedlich und würdevoll zusammenleben und sich selbst verwirklichen können.
Wir versuchen alles in unserer Macht Stehende, damit sich die Türkei nicht einem „Ein-Mann-Regime“ unterwirft. Unzählige Menschen, deren Namen wir nicht einmal kennen, engagieren sich selbstlos für die Freiheit der Gedanken. Und am allerwichtigsten sind wohl die jungen Menschen, die in Zeiten solcher Ungerechtigkeiten erwachen und sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst werden. Sie stehen in den Startlöchern und sind bereit, die Zukunft ihres Landes mitzugestalten.
Die Cumhuriyet, die ihren Namen dem Republikgründer Atatürk verdankt, feiert dieser Tage ihren 93. Geburtstag und sicher sind die Herzen der Leser*innen genauso gebrochen, wie die Stifte der Schreibenden. Dennoch versuchen wir uns den Mut in unseren Herzen zu bewahren und sind bereit, jenen, die unsere Herzen und Stifte gebrochen haben, die Hände zu reichen.
Denn wir haben einen gemeinsamen Nenner und das ist die „Cumhuriyet“ (dt.: Republik). Ihr zuliebe wollen wir unsere Meinungsverschiedenheiten beiseite legen. Trotz der aktuellen Umstände sind wir zuversichtlich, dass sich das Blatt zum Guten wenden und Gerechtigkeit siegen wird. Wir jedenfalls werden nicht aufhören, uns sowohl für die Cumhuriyet, als auch für die Republik einzusetzen. So, wie beide sich nicht verbiegen lassen und geschlagen geben werden.