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Suruç am 20. Juli 2015, kurz vor der Detonation.

Vor zwei Jahren in Suruç

2015 starben bei einem der schwersten Attentate in der Geschichte der Türkei 33 Menschen. Unser Gastautor hat den Anschlag überlebt.

MEHMET LÜTFÜ ÖZDEMIR, 2017-07-19

Am 20. Juli 2015 fuhr ich mich mit mehreren Aktivist*innen – die wie ich bei den Gezi-Protesten dabeigewesen waren – nach Kobane, einer Stadt nahe der türkisch-syrischen Grenze. Wir hatten nicht einmal Taschenmesser dabei. Solidarisch wollten wir uns zeigen mit den Menschen dort, die unter dem Krieg litten. In der türkischen Stadt Suruç, einer Stadt unweit der syrischen Grenze, machte ich um 12 Uhr Fotos von der Pressekonferenz der teilnehmenden linken Organisationen. Dann explodierte vor meinen Augen eine Bombe. Obwohl das nun genau zwei Jahre her ist, hat dieser Tag in meiner Erinnerung nichts an Intensität verloren.

Der damalige Ministerpräsident Erdoğan und die AKP-Regierung führten zuvor Friedensgespräche mit den Kurden. Der Anschlag auf eine Versammlung der prokurdischen Partei HDP am 5. Juni 2015 in Amed, auf türkisch Diyarbakır genannt, setzte den vorläufigen Schlusspunkt für die Friedensgespräche. Vollends endete der zweijährige Friedensprozess aber im Garten des Kulturzentrums Amara in Suruç, wo die Bombe detonierte. Nach offiziellen Angaben zeichnete sich der sogenannte „Islamische Staat“ für das Attentat verantwortlich. 33 meist junge Menschen wurden auf diese Weise getötet und Hunderte verletzt.

Um uneingeschränkte Macht zu erlangen, nahm Erdoğan Kurden, Aleviten und Sozialdemokraten ins Visier. Sollte der Prozess zum Massaker von Suruç tatsächlich unabhängig und fair geführt werden, wird am Ende vielleicht auch bewiesen sein, dass der „Islamische Staat“ und seine Aktivitäten in der Türkei geduldet wurden. Wenn den Opfern von Suruç Gerechtigkeit widerfährt, könnte das auch bedeuten, dass sämtliche folgenden Anschläge aufgeklärt werden könnten – allen voran das Bombenattentat von Ankara am 10.Oktober des gleichen Jahres.

Der erste Prozess zum Anschlag von Suruç wurde am 4. Mai 2017 auf dem Gefängnisareal im Kreis in Şanlıurfa im Südosten eröffnet. Militärkräfte sperrten das Areal weiträumig ab. Die erste Verhandlung wurde 21 Monate nach dem Anschlag ohne Angeklagte durchgeführt. Eine Anklageschrift, die verlesen werden konnte, gab es nicht. Eine Reporterin der inzwischen per Notstandsdekret geschlossenen Agentur ETHA wurde während der Verhandlung festgesetzt, um zu verhindern, dass sie von dort berichtet.Fünfmal wechselte der Staatsanwalt. Seit 18 Monaten werden die Verhandlungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt. Dafür tauchte die Anklageschrift auf.

Hinweise auf den Anschlag wurden unterschlagen

Der damalige Polizeipräsident von Suruç hatte bereits vor dem Anschlag nachrichtendienstliche Informationen erhalten. So lag eine Einstufung des Attentäters als „wegen Terrorismusgefahr gesuchte“ Person bereits einen Monat vor dem Anschlag, am 16. Juni, im Polizeipräsidium von Suruç, vor. Nicht das Selbstmordattentat wurde verhindert, sondern Maßnahmen gegen die 318 Menschen getroffen, die anreisten.

Der verantwortliche Ex-Polizeipräsident von Suruç, Mehmet Yapalıal erhielt eine Geldstrafe von 7.500 TL, weil er diese vorliegenden Informationen nicht dazu genutzt hatte, umfassende Sicherheitsvorkehrungen gegen den Terror zu treffen. Die Aktivist*innen hatten einzig Spielsachen und Pflanzensamen für Kobane im Gepäck, als sie nach Suruç reisten.

Die zweite Verhandlung im Prozess wegen des Suruç-Massakers, fand in Urfa am 14. Juli 2017 statt. Erneut wurde der einzige inhaftierte Angeklagte Yakup Şahin nicht zur Verhandlung gebracht. Şahin lehnte die Video-Zuschaltung zunächst aus Gesundheitsgründen ab. Die Videoschaltung kam trotzdem zustande. Als die Angehörigen Şahin erblickten, riefen sie wütend: „Du bist der Mörder unserer Kinder!“ Die Anträge der Anwälte auf Anwesenheit des Angeklagten bei den Verhandlungen und der Verletzten auf Nebenklage wurden angenommen. Die Verhandlung wurde auf den 13. November 2017 vertagt.

AKP lehnte Untersuchungskommission ab

Die Anwälte der Kläger*innen sehen sich seit zwei Jahren mit einer nicht enden wollenden Prozess konfrontiert. “Wie wir bereits bei der Beweisaufnahme merkten, wird auch das Gerichtsverfahren nicht gewissenhaft genug durchgeführt“, sagt eine begleitenden Juristinnen, Gülhan Kaya. Ihre Kollegin Sevda Çelik glaubt, dass auch darum gehe, Angeklagte und Täter im Prozess nicht in Erscheinung treten zu lassen.

Der Antrag auf Einsetzung einer parlamentarischen Untersuchungskommission nach dem Anschlag von Suruç wurde von AKP- und MHP-Abgeordneten im Parlament abgelehnt. Der damalige Premierminister Ahmet Davutoğlu hatte indes verlauten lassen, dass die Selbstmordattentäter, die sich in die Luft gesprengt hatten, seigefasst und der Justiz übergeben worden seien.

Meiner Meinung nach hat sich der türkische Staat in der Vergangenheit mit dem Völkermord an den Armeniern nicht auseinandergesetzt, und die Völkermorde in Zilan und Dersim nicht vollständig aufgearbeitet. Rechenschaft für das Attentat von Suruç zu fordern und für Gerechtigkeit zu kämpfen heißt deshalb, sich in der Türkei gegen Krieg und staatliche Terror-Politik zu stellen. Und es heißt, für den Frieden zu kämpfen.

MEHMET LÜTFÜ ÖZDEMIR, 2017-07-19
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