Am 6. April nimmt der neue Flughafen in Istanbul seinen Regelbetrieb auf.
Mit Grafiken, Videos, Reportagen und Interviews beleuchtet taz gazete die Folgen des Megaprojekts für Menschen, Umwelt und Wirtschaft.

Lesen Sie mehr unter
taz.atavist.com/istanbul-flughafen

„Früher mussten hier Menschen weggehen. Jetzt ist es zu einem Schutzort geworden.“

„Was kann die Welt daraus lernen?“

Neuverortung ist das Thema des genreübergreifenden deutsch-türkischen Festivals „disPlaced – rePlaced“ in Berlin. Wir sprachen mit Kuratorin İpek İpekçioğlu.

SIBEL SCHICK, 2017-07-28

Die DJ, freie Autorin und Musikproduzentin İpek İpekçioğlu gehört zu den bekanntesten Gesichtern der Berliner Clubszene und zeichnete sich in Vergangenheit für viele interkulturelle Projekte verantwortlich. Wir sprachen mit ihr über das genreübergreifende deutsch-türkische Festival „disPlaced – rePlaced“, das von ihr kuratiert wurde, und über die neue Migration aus der Türkei.

taz: İpek İpekçioğlu, was bedeutet „disPlaced – rePlaced“?

İpek İpekçioğlu: Du verlässt ein Land, das heißt, du wirst „displaced“, und gehst in ein anderes, in dem du dich zurechtfinden, neue Zugänge kreieren musst, das heißt Neuverortung, also „replaced“. Dahinter stehen Fragen wie: Was bedeutet es, wenn du das Land, in dem du lebst, aufgrund deiner politischen, sozialen oder künstlerischen Haltung auf einmal verlassen musst?

Mussten die Teilnehmer*innen des Festivals die Türkei unter Zwang verlassen?

İpek: Ja. Tatsächlich mussten viele Künstler*innen, Jour­na­lis­t*innen und Akademiker*innen hierher kommen. Manche mussten aus rechtlichen Gründen gehen, zum Beispiel wegen der Staatsverfolgung. Einige konnten sich das aussuchen und entschieden so, weil sie sich in ihrem Land als Künst­ler*in nicht mehr entfalten, ausdrücken konnten.

Manche wollten schon immer diesen Schritt gehen, in ein bestimmtes Land aufbrechen wegen der Kunstszene dort. Weil sie glauben, sich mit den Künstler*innen dort besser verbinden zu können.

In jüngster Zeit sind viele neue Leute aus Istanbul nach Berlin gekommen.

Ja, und manche Neuankömmlinge fühlen sich wohl, aber es gibt auch Menschen, die nicht mehr zurück können, weil sie kriminalisiert werden. Deutschland ist jetzt ihre neue Heimat.

Was ist die Absicht des Festivals?

Für diejenigen, die entortet und neu verortet sind, wollen wir einen Raum schaffen, ein Diskussionsforum, wo sie über ihre Kunst und über die Themen, mit denen sie sich auseinandersetzen, sprechen können. Und da­rüber, was ihre neue Le­bens­si­tua­tion für ihre Ausdrucksformen bedeutet. Wir möchten zum einen Kunst, zum anderen unsere Heterogenität zeigen.

Worin bestehen die Herausforderungen hier für jene, die neu angekommen sind?

Einige Akademiker*innen, die hierher kommen mussten, können ihre Familien nicht mehr sehen. Viele überlegen sich deshalb, wieder zurückzukehren – selbst wenn Familienmitglieder inhaftiert sind. Menschen, die total gerne auf Türkisch geschrieben haben, finden hier keine Verlage, die ihre Werke veröffentlichen.

Wie unterstützen Sie sich gegenseitig?

Es gibt zum Beispiel das „Apartman Projesi (Hausprojekt)“ hier in Berlin: Ein Haus, in dem Berliner und Istanbuler Künstler*innen zusammenkommen und sich austauschen. Es kommen auch viele Läden aus der Türkei, die dort schließen und hier wieder aufmachen.

Nehmen denn nur neu ver­ortete Menschen am Festival teil?

Nein. Es sind auch ältere Ber­li­ne­r*in­nen wie die Bands Adirjam, Gülina und ich, die sogenannten Almancılar. Wir kommen mit den neuen Berliner*innen zusammen. Wenn sich daraus etwas Langfristiges entwickeln würde, fände ich das toll. Außerdem sind die Kunst und die Musik einfach viel zu schön, um nur unter uns zu bleiben.

Also geht es ums Teilen und Zeigen.

Genau. Sonst bekommt es ja niemand mit. Sakina & Anadolu Quartet spielen alte anatolische Lieder. Adirjam singt lesbisch-queere Lieder auf Kurdisch. Wir haben bei dem Festival verschiedene künstlerische Elemente von Musik bis zu Installationen. Und es gibt eine Clubnacht im Kater Blau, bei der nur türkischstämmige DJs auflegen. Das findet zum ersten Mal statt – war das Kater Blau jemals so türkisiert? (Lacht.)

Soll das Festival den Künst­le­r*innen neue Wege in Deutschland ermöglichen?

Vielleicht ist der Weg schon geebnet. Es geht darum, Räume zugänglich zu machen und das Publikum näher an die Künstler*innen und die Künstler*innen näher an das Publikum zu bringen.

Es gibt auch LGBTI*-Teil­neh­me­r*in­nen. Wie sind deren Erfahrungen in der Türkei?

Gizem Oruç und Rüzgâr Buşki, die vor ein paar Jahren hergekommen sind, oder Şevval Kılıç, die hier eventuell Fuß fassen möchte, berichten, dass es in der Türkei immer schwieriger wird, offen queer zu leben. Die Stimmung ändert sich sehr. Şevval ist übrigens die erste Trans*DJ überhaupt im Radialsystem V und Kater Blau.

Was kann für die getan werden, die sich hier unwohl fühlen?

Wir sind in einem Land, das jahrelang Entortung und Neuverortung verursacht hat. Früher mussten hier Menschen weggehen, ihr Land verlassen, weil sie nicht als Deutsche betrachtet wurden oder um ihr Leben fürchten mussten. Jetzt ist Deutschland zu einem Schutzort geworden für viele. Was kann die Welt daraus lernen? Wer heute entortet oder neu verortet wird, kann das morgen selbst (mit)verursachen.

Ist das Festival auch als Solidaritätsprojekt gedacht?

Ich mache einfach ein Kunstfestival und nehme dieses Thema, weil es die Teilnehmer*innen sehr beschäftigt. Es geht nicht darum, Opfer aus ihnen zu machen und zu sagen: „Schau mal, die armen Migrant*innen, die unsere Unterstützung brauchen.“

Vielfältigkeit ist machtvoll, und eine Gesellschaft, die sie ertragen kann, ist unzerbrechlich. Ich bin total glücklich, nicht monokulturell zu sein, ich liebe meine deutschen Seiten, und ich liebe es, dass meine Musik auf mehreren Schienen funktioniert. Ich bin offen für Neues. Nur eine neugierige Gesellschaft kann sich weiterentwickeln; eine, die sich kulturell abgrenzt, ist dazu verdammt, zu sterben.

Was können wir von den Neu­ber­liner*innen lernen?

Nicht unbedingt „lernen“ – eher erleben und erfahren, denken, diskutieren, tanzen und hören. Natürlich haben viele Menschen aus unterschiedlichen Kulturen auch unterschiedliche Arten und Weisen, mit Kunst umzugehen. Ich freue mich sehr auf das Festi­val. Kommt und hört mit mir, erfahrt mit mir, lernt mit mir, diskutiert mit mir, tanzt mit mir!

Festival #disPlaced – #rePlaced Cultural – Transition of Istanbul and Berlin. Vom 28. – 30. Juli 2017 im Radialsystem V.

SIBEL SCHICK, 2017-07-28
ZURÜCK
MEHR VOM AUTOR