Gamze Hoca und Madır Öktiş gehen mit viel Humor an Gender- und LGBTQ*-Themen heran. So wollen sie junge Menschen aus dem Sumpf der Ideologien holen.
Gamze Hoca und Madır Öktiş haben einen gemeinsamen YouTube Kanal, auf dem sie sich satirisch mit den Themen Geschlechteridentitäten und LGBTQ* beschäftigen. taz.gazete hat mit ihnen über Geschlechtersabotage und die Möglichkeiten von LGBTQ*-Aktivismus in der Türkei gesprochen.
taz.gazete: Wer ist Madır Öktiş?
Madır Öktiş: Ich bin ein 25-jähriger YouTuber und LGBTQ* Aktivist. 2011 kam ich zum studieren nach München und bin dort fast vor Langeweile gestorben. Als ich überlegte, was genau ich dagegen tun sollte, erlebte die LGBTQ*-Bewegung in der Türkei gerade einen Aufschwung und ich beschloss zurück nach Istanbul zu ziehen. An der Boğaziçi Universiät begann ich, Philosophie zu studieren. Zu dieser Zeit fand ich mich, die Person Madır Öktiş.
Mit welchen Themen beschäftigt du dich?
Madır Öktiş: Ich mache ständig Stress und lege mich mit Leuten an. Ich sabotiere die Leute in Bezug auf moralische Themen oder gesellschaftliche Erwartungen. Gendersabotage eben (lacht).
Und wie sieht so eine Gendersabotage aus?
Madır Öktiş: Ich schlüpfe in diverse Identitäten: manchmal verkleide ich mich als Frau und streite darüber, dass ein Bart kein Hindernis für Weiblichkeit ist. Ich versuche klar zu machen, dass ein Mensch nicht mehr Frau oder Trans ist, als ein anderer. Ich lege Profile auf Dating-Apps an und versuche die Menschen mit ihren Vorurteilen zu konfrontieren.
Und Gamze, würdest du ein wenig von dir erzählen?
Gamze Hoca: Ich bin 23 Jahre alt und stamme aus der ägäischen Stadt Aydin. Zum Studieren bin ich dann nach Istanbul gezogen, wo ich mich an der Boğaziçi Üniversität für Englische Sprache und Literatur eingeschrieben habe. Ich war eine Idealistin, als ich nach Istanbul zog.
Was meinst du damit?
Gamze Hoca: Ich hatte Pläne und glaubte, dass ich diese ohne Unterbrechungen umsetzen werde können. Natürlich ist alles anders gekommen. Ich hatte Schwierigkeiten, mich im Studium an mein Umfeld anzupassen. Transignorante und auf Cis-Identitäten gepolte Lehrkräfte waren ein großes Problem. Istanbul wurde zu einem unerträglichen Ort und ich begann meine Wünsche und Ziele zu hinterfragen.
Wie hattest du dir denn Istanbul vorgestellt?
Gamze Hoca: Die Boğaziçi Universität hat ein derart tolles Image, dass man der Illusion einer vorurteilsfreien Welt mit aufgeklärten Menschen verfällt. Jedenfalls so lange, bis man selbst in der Vorlesung eines renommierten Professors nur heteronormative Geschlechterbilder vorgetragen bekommt. Ich habe nichts dazu gesagt, sondern einfach aufgehört seine Vorlesung zu besuchen.
Wäre ein Gespräch nicht produktiver gewesen?
Gamze Hoca: Nein. Die meisten Dozierenden würgen mit „das ist eben mein Lehrstil“ ab, nur die wenigsten lassen sich auf eine Diskussion ein. Ich stehe in der Kritik, weil ich die allseits beliebte Boğaziçi in Frage stelle. Meine Meinung zum akademischen Betrieb ist: Solange es in einer Einrichtung Hierarchien gibt, werde ich mich nicht als Teil dieser betrachten.
Wie seid ihr auf die Idee mit den Videos gekommen?
Madır Öktiş: 2013 wandte ich mich den neuen Trends zu. Ich hatte einen Youtube-Kanal, auf dem ich von Zeit zu Zeit Videos veröffentlichte. Ich habe über einen Zeitraum von anderthalb Jahren in unregelmäßigen Abständen Videos von Lady Gaga nachgedreht und sie mit eigenen Performances neu interpretiert.
Und wie hat sich der Kanal zu seinem heutigen Format entwickelt?
Madır Öktiş: Ich habe die erwähnten Videos 2014 bei den genmanipulierten Tomaten, einer Preisverleihung gegen Homo- und Transphobie (2005 von Istanbuler LGBTQ*-Vereinen ins Leben gerufen, Anm.d.Red), live performt. Zu dieser Zeit spielte ich bereits mit dem Gedanken, Videos zu drehen, aber ich fühlte mich als Aktivist*in noch nicht bereit. Um ehrlich zu sein, hab ich es mir auch noch nicht so richtig zugetraut. Aber dann folgten 2015 und 2016 weitere Auftritte bei der Preisverleihung.
Wann habt ihr eure Zusammenarbeit gestartet?
Madır Öktiş: Als das erste mal der Ausnahmezustand ausgerufen wurde, hatte Gamze Hocam über Snapchat ein Video mit dem Titel „Make-Up für den Ausnahmezustand“ veröffentlicht.
Gamze Hocam: Das habe ich gemacht, um nicht völlig durchzudrehen. Ich hatte seit fünf Tagen das Haus nicht mehr verlassen. Ich hab mir einen Kajal geschnappt und losgelegt. Das ganze war etwas Amateurhaft, deshalb haben wir das ganze neu gedreht.
Madır Öktiş: Da sich der Ausnahmezustand zu einem permanenten Zustand entwickelt hat, haben wir eine Verbindung zu Permanent Make-Up geschlagen. Permanent Make-Up für Permanenten Ausnahmezustand. Daraufhin widmeten wir uns alltäglichen Themen.
Wer ist eure Zielgruppe?
Madır Öktiş: Ich persönlich will junge Menschen erreichen, die im Sumpf der Ideologien ihrer Familien feststecken und solche, die sich vielleicht vor negativen Reaktionen fürchten, falls sie sich mal trauen, etwas jenseits ihrer Familienideologien zu positionieren. Unsere Zuschauer*innen sind mehrheitlich zwischen 15 und 24 Jahre alt, man könnte sagen, dass ich meine Zielgruppe erreiche.
Worauf achtet ihr beim Videodreh?
Madır Öktiş: Es ist schwierig für Menschen an Informationen zu gelangen, die wichtig für sie sind. Wir Aktivisten haben da einen großen Anteil daran. Die meisten Infos existieren nur gehobener oder Fremdsprache. Mein Ziel ist es ein ein Beruhigungsmittel zu produzieren, das zwar aus akademischen Kreis stammt, aber leicht verträglich für meine unerfahrenen Freund*innen ist.
Gamze Hocam: Wenn wir uns treffen, dann geht es viel um Satire. Wer heutzutage nicht lacht, dreht vermutlich durch, warum also nicht gleich vor der Kamera? Wir reden miteinander – das hilft uns. Zudem ist es aufregend mit ähnlich denkenden Menschen dadurch in Kontakt zu kommen. Solche, die bei sich zu Hause eine Minderheit darstellen. Wir treffen auch Menschen, die sagen „ihr seid anders, aber ich versuche, euch zu verstehen“. Das ist gut.
Der LGBTQ*-Aktivismus war in den vergangenen Jahren kämpferischer und härter im Ton. Eure Videos hingegen sind witzig und ziehen Trolle aus dem politischen Bereich an. Was sind die wesentlichen Unterschiede in eurem Auftreten? (Uslüp – heißt eigentliche Sprache)
Madır Öktiş: Ich persönlich kann mich mit Humor am besten ausdrücken. Finde es aber auch gut, dass es Aktivist*innen gibt, die einen ernsteren Ton anschlagen. Ich versuche den Errungenschaften früherer Aktivisten etwas Neues hinzuzufügen. Letztlich ist mein Verhalten eine Reaktion auf meine Zielgruppe.
Was sind die Herausforderungen in der Bewegung?
Madır Öktiş: Zu Beginn meines Engagements habe ich mich als einen cisgender, homosexuellen Mann bezeichnet. Rückblickend kann ich aber sagen, dass ich unter – wenn auch gut gemeintem – Druck meiner homosexuellen Freunde stand, der im Gewand sexueller Selbstbestimmung daherkam. Ich wurde zu stereotypischem Aussehen und Verhalten gedrängt, sie sagten mir, was ich anziehen, wohin und mit wem ich ausgehen, wie ich meine Beziehungen zu führen hatte. Ich habe gelernt, dass auch gut gemeinte Ratschläge Schaden anrichten können.
Und was hast du dagegen unternommen?
Madır Öktiş: Ich versuche Dinge, zu denen mir die Erfahrung fehlt, nicht zu kommentieren. Ich finde es sinnvoller, bereits zur Diskussion stehenden Meinungen eine Plattform zu bieten und meine Stimme zu erheben, um anderen bei ihrem Anliegen Gehör zu verschaffen. Ich will nicht didaktisch sein, nur meine eigenen Erfahrungen mit anderen teilen.
In einer politisch so schwierigen Situation, wo liegen da die inneren Konflikte der Bewegung?
Gamze Hocam: Machtdemonstrationen. Die Ansicht, dass sich nur der durchsetzen kann, der stark ist. Manche Menschen wollen ihre Privilegien – so entsteht eine Hierarchie von den Privilegierten zu den in der Szene gänzlich Unbekannten.
Madır Öktiş: Die Illusion, dass man als benachteiligter Mensch, die Probleme von anderen benachteiligten Menschen ohne weiteres versteht. Auch die Tatsache, dass diese Betroffenen unter dem Vorwand, humorvoll zu sein, verletzend miteinander umgehen. Einige ältere Aktivist*innen glauben, dass mit der zunehmenden Institutionalisierung neue Probleme geschaffen werden.
Wie genau?
Madır Öktiş: Sie glauben, dass sie alle Probleme mit Heterosexismus erklären können und haben sich auch als Betroffene von Heterosexismus positioniert. Sobald sie mit neuen Begriffen konfrontiert werden und begreifen, dass sie nicht nur Betroffene, sondern auch Handelnde sind, führt das zu einem Gefühl von Identitätsverlust.
Ist das ein neues Thema?
Madır Öktiş: Nein, eigentlich nicht. Zu Beginn meines Engagements wurde über Nationalität oder Ethnizität diskutiert. Die Ausdehnung von Begriffen, wie zum Beispiel Trans, führt zu Konflikten zwischen jenen, die meinen, alles zu wissen und jenen, die finden, dass es erst gerade richtig los geht. Mit unserer Geschlechtersabotage erschüttern wir eben jene gewohnten Denkmuster.
Hier findet ihr die YouTube Kanäle von Gamze Hoca und Madır Öktiş.